Newsletter Nr. 3

Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser

Vor bald einem Jahr ins Leben gerufen steht Pro Ethica nunmehr auf soliden Füssen. Wir haben fünfzehn Mitglieder, rund hundert Abonnentinnen und Abonnenten dieses Newsletters, ein Netzwerk von MitarbeiterInnen und mehrere vielversprechende Projekte am Laufen. Wir bedanken uns an dieser Stelle für die in den letzten Monaten erhaltenen Sympathie- und Unterstützungsbekundungen. Um unseren Ambitionen für den Think-Tank gerecht zu werden, brauchen wir in erster Linie noch mehr Mitarbeitende die bereit sind, sich in unseren Projekten und den alltäglichen Angelegenheiten des Vereins zu engagieren. Nur so kann Pro Ethica das Ziel erreichen, die Rolle einer verbindenden Plattform zwischen Zivilgesellschaft und politischer Sphäre wahrzunehmen.

Die Arbeiten an unseren drei Hauptprojekten gehen voran: Im Projekt Humaniora, in dem die relevanten Kenntnisse für ein besseres Verständnis der Ethik zusammengetragen und verbreitet werden, erscheinen demnächst Arbeiten zur Ethik von Konfuzius und jener des Stoikers Epiktet. Im Projekt Ethoscope, das zeitgenössische Fragestellungen angeht, haben wir eine Forschungsgruppe zum Thema „Immigration, Integration und Multikulturalismus“ geschaffen. Die ersten Ergebnisse werden in diesem Herbst in Form eines Dossiers und einer öffentlichen Veranstaltung präsentiert. In unserem Projekt Ethometrics schliesslich haben wir die Vorstudien gestartet. Um den geplanten theoretischen Rahmen zur Analyse und Evaluation des ethischen Profils von Unternehmen zu erarbeiten, haben wir eine Praktikumsstelle geschaffen. Diese hat zum Ziel, die vermeintlichen ethischen Verfehlungen von Schweizer Unternehmen, sowie deren Stellungsnahmen dazu, zu erfassen. Für diese drei Projekte, sowie für die alltäglichen Geschäfte, suchen wir motivierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Kontaktieren Sie uns ohne zu zögern, wenn Sie Interesse haben und einen Beitrag zu unserer Arbeit leisten wollen.

Der Vorstand von Pro Ethica wünscht Ihnen einen schönen Sommer!


Editorial

Worin besteht genau das Interesse, sich mit der Ethik im Rahmen einer bestimmten Tradition zu beschäftigen, und nicht bloss ethische Theorien unabhängig von ihrem Hintergrund zu untersuchen? Dies ist die Frage, auf die das Projekt Humaniora Antworten liefern soll.

Auf den ersten Blick scheint es vernünftig zu vermuten, dass das jahrhunderte- oder gar jahrtausendelange Bestehen einer ethischen Tradition derselben eine gewisse Autorität verleiht. Nehmen wir das Beispiel von Konfuzius und der – in westlichen Sprachen – unter dem Namen Konfuzianismus bekannten Tradition. Der Mann mit dem Namen Kong Qiu (551-479 vor unserer Zeitrechnung), oft „Meister Kong“ genannt („Kongzi“ oder „Kongfuzi“, im 16. Jahrhundert von jesuitischen Missionaren zu „Confucius“ latinisiert), ist im antiken chinesischen Staat Lu geboren, in der heutigen ostchinesischen Provinz Shandong. Konfuzius hielt seine Epoche für moralisch dekadent, aufgrund der politischen Instabilität der Zeit der Frühlings- und Herbstannalen (etwa 770-476), die mit dem Zerfall der Zentralmacht der Zhou-Dynastie einherging. Betroffen durch diese Entwicklung und beseelt durch den Wunsch, den Weg (daoder alten Zeiten wiederherzustellen, lehrte Konfuzius seine Auffassungen der Ethik und der Politik, die dem Streben nach einem Ideal der Harmonie entsprechen, in welcher jeder tugendhaft den ihm gebührenden Platz einnimmt.

Zu seinen Lebzeiten waren seine Versuche der Einflussnahme von wenig Erfolg gekrönt. Doch im Verlauf der Jahrhunderte und Jahrtausende hat sich das konfuzianische Denken in der chinesischen Zivilisation und ihrer Einflusssphäre dauerhaft festgesetzt, naturgemäss nicht ohne in mannigfaltiger Weise neu verwendet und ausgelegt worden zu sein. Nach einem geflügelten Wort aus Sinologenkreisen hat in der Geschichte der Menschheit nichts Geschriebenes einen dauerhafteren Einfluss auf eine grössere Anzahl Menschen gehabt als das Denken von Konfuzius. Auf Beispiele der westlichen Geistesgeschichte übertragen, könnte man sagen, dass Konfuzius eine Rolle gespielt hat, die der gemeinsamen Bedeutung von Sokrates und Jesus entspricht. In der Tat hat Konfuzius zugleich eine philosophische Tradition, eine Moral und eine Religion begründet.

Aber der Einfluss einer Denkrichtung belegt noch nicht ihre Richtigkeit. Immerhin könnte sich der Erfolg einer ethischen Theorie auch durch nicht-moralische Gründe erklären, beispielsweise dadurch, dass sie praktischen Interessen dient. Es geht also darum, die betreffenden Thesen und Argumente auf ihre Gültigkeit zu untersuchen und sie so von gewissen nicht-moralischen Interpretationen und Anwendungen zu befreien. Ausserdem ist es so, dass zwar ein Teil der ethischen Fragestellungen beständig und unveränderlich ist, jedoch ein anderer Teil von den Umständen des Ortes und der Epoche abhängt. Zu guter Letzt hängt eine ethische Theorie auch in beträchtlichem Masse sowohl von den verwendeten Konzepten als auch von ihr zugrundeliegenen meta-ethischen Auffassungen ab. Es geht also auch darum, diese Konzepte und die betreffenden meta-ethischen Auffassungen einer Theorie zu erläutern, um ihre Glaubhaftigkeit zu untersuchen.

Ein Beispiel aus unserer eigenen westlichen Zivilisation verdeutlicht dies. Im antiken Griechenland galt der Begriff des „guten Lebens“ als untrennbar mit dem Begriff der „richtigen Handlung“ verbunden; was dieser Auffassung nach eine Handlung richtig macht, ist identisch mit dem, was das Leben gut macht: die Tugend. Richtiges Handeln führt zu einem bessere Leben – und umgekehrt. Erst im 18. Jahrhundert schlug Kant zum ersten Mal vor, dass diese Begriffe getrennt werden sollten, da das Konzept der Tugend nicht ausreiche, um unsere moralischen Verpflichtungen zu erfassen. Immanuel Kant ist also die Idee geschuldet, dass das Obligatorische einer Handlung durch moralische Sachverhalte erklärt wird, was eine Tugendtheorie offenbar nicht zu tun in der Lage ist.

Aber obwohl die Denker der verschiedenen Traditionen vielleicht die eine oder andere der erwähnten Dimensionen nicht beachteten, gewisse Dinge nicht wussten und auf andere nicht sensibilisiert waren, bietet uns die Geistesgeschichte eine Fülle von Argumenten, Thesen und Konzepten, die uns über Jahrtausende überliefert worden sind. Auch wenn es möglich ist, dass innovative Ideen entstehen und unser Verständnis der Ethik voranbringen oder gar revolutionieren werden, scheint es sehr wahrscheinlich, dass jahrtausendelanges Überlegen bereits einen beträchtlichen Teil der Materie bereitgestellt hat, die für das philosophische Nachdenken über Ethik notwendig ist. Einer der vielversprechenden Wege um in der Ethik voranzukommen besteht demnach darin, bereits Gesagtes wiederaufzunehmen, mit kritischem Geist zu begutachten und neu zu bewerten. In ebendiesem Sinne zielt das Projekt Humaniora darauf hin, verschiedene Theorien und Traditionen im Hinblick auf ihre Anwendung auf heutige Fragestellungen zu untersuchen.

Der Fall des Konfuzius ist in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Die Auffassungen von Meister Kong – die übrigens nicht in einem kohärenten System organisiert, sondern durch Nachfolger in den Analekten des Konfuzius (oder Gesprächen des Konfuzius) in der Form von Aphorismen und Anekdoten zusammengetragen worden sind – legen eine faszinierende Vision des guten Lebens und der beispielhaften Person vor, welche die zeitgenössischen Ansätze der Ethik inspirieren und vervollständigen kann.

Dieser Newsletter bietet Raum, die der konfuzianischen Ethik zentralen Auffassungen des guten Lebens und der tugendhaften Person darzulegen. Eingangs muss jedoch erwähnt werden, dass diese Auffassungen zwar im eigentlichen Sinn der Ethik zuzurechnen sind, sie aber nichtsdestotrotz Teil eines Gedankengebildes sind, das sich auch auf andere menschliche Angelegenheiten bezieht – insbesondere das Politische. Das ethische Ideal der beispielhaften Person, welche die Tugenden in sich vereint, geht Hand in Hand mit dem politischen Ideal einer harmonischen Gesellschaft, welche weniger durch Gesetzeszwang als durch die Tugendhaftigkeit der Personen regiert und reguliert wird. Dieser Auffassung nach sind Gesellschaftsmitglieder, die auf der Basis von Tugenden – also einer stabilen Disposition, nach gewissen moralischen Werten zu handeln – handeln, eher dazu geneigt, in Harmonie zu leben und das Gute und Richtige voranzubringen als diejenigen, die sich bloss unter Strafandrohung einer Regel unterstellen. Konfuzius hat damit also ein ethisches Ideal mit einem politischen Ideal verbunden.

Die konfuzianische Ethik ist vielen Versuchen zur Systematisierung unterzogen worden, und dies von unterschiedlichen konzeptuellen Rahmen aus (Referenzen befinden sich in unserem demnächst erscheinenden Dossier, oder schneller auf Anfrage per Mail). Dies liegt nicht nur am eingangs erwähnten Mangel an Systematik, sondern auch an philologischen und philosophischen Schwierigkeiten bei der Interpretation gewisser Ausschnitte und ihrer Kohärenz. So haben verschiedene Forscher das konfuzianische Denken mit so unterschiedlichen ethischen Modellen in Verbindung gebracht wie dem Konsequentialismus, der Deontologie, der Tugendethik, oder der „Care-Ethik“. Es scheint aber gewiss, dass sich insbesondere das Konzept der Tugend ohne Verzerrung der ursprünglichen Gedanken in sie integrieren lässt, obschon einige Ausschnitte ansatzweise einer normativen ethischen Theorie gleichen (vgl. zum Beispiel die berühmte Goldene Regel, die besagt: „Was man mir nicht antun soll, will ich auch nicht anderen Menschen zufügen.“ (Analekten 15.24, Übers. Moritz)).

Die konfuzianische Ethik scheint vor allem eine Theorie der Tugenden zu enthalten, welche ihre Artikulierung in einer Konzeption der vorbildhaften Person findet. Diese Ethik bietet eine bestimmte Auffassung von der Entwicklung, die ein moralischer Akteur beschreiten muss, wenn er die höchsten menschlichen Eigenschaften anstreben will. Dieser Entwicklungsprozess setzt ein beständiges und rigoroses Lernen voraus. Konfuzius erachtet dieses Lernen als das Unterfangen eines Menschen, der in erster Linie Teil eines menschlichen Gemeinwesens ist, einer in gewissem Sinne „heiligen“ oder „sakralen“ Menschheit (im Gegensatz beispielsweise zu einem Modell der Selbstverwirkichung eines Individuums, bei dem das Ziel in einem Maximum an Freiheit besteht).

Im Zentrum der konfuzianischen Ethik befinden sich insbesondere die beiden Konzepte ren und li. Während das Konzept ren das Ideal der Menschlichkeit bezeichnet, bezieht sich das Konzept li – oft als Ritus (Riten) übersetzt – auf die zwischenmenschlichen Beziehungen und deren Sakralität. Die persönliche Moralität ist Konfuzius gemäss untrennbar verbunden mit der Tatsache, dass jeder Mensch ganz grundsätzlich Teil eines gesellschaftlichen Ganzen ist. Das adäquate rituelle Verhalten, also die angemessene Weise, sich anderen gegenüber zu verhalten, spielt dabei eine zentrale Rolle. In der Tat ist diese harmonische Interaktion mit der menschlichen Gemeinschaft Voraussetzung dafür, dass die Tugenden, die dem Ideal der „Menschlichkeit“ entsprechen, realisiert werden können.

Um die Bedeutung des Begriffes „Ritus“ zu verstehen, muss der Gegensatz zwischen dem Sakralen (dem Heiligen) und dem Individuellen bei Konfuzius erwähnt werden. Da die Riten als sakral angesehen werden, besitzen sie eine Autorität, die nicht auf jene der Individuen zurückgeführt werden kann. Etwas Sakralem gegenüber ziemt sich eine Haltung der Ehrerbietung: Diese Verpflichtung gilt für alle Individuen. Diese verbindliche Ehrerbietung ermöglicht – in unserer Interpretation von Konfuzius – das Identifizieren der Werte, welche die Individuen respektieren sollten. Erst wenn ein Familienvater seine Ehefrau aus (heiliger) Pflicht respektiert, beispielsweise, kann er entdecken, inwieweit er in allen Menschen einen gewissen Wert anerkennen muss. Mit anderen Worten ausgedrückt heisst dies, dass die Verpflichtungen, die aus dem Sakralen hervorgehen, auf den Werten beruhen, deren Erkennen durch die Befolgung der Riten erleichtert und erst ermöglicht wird.

Seinen Verpflichtungen nachzukommen bedingt für Konfuzius also die Tatsache, die Riten durchzuführen (und den anderen zu zeigen, dass man dies tut). Indem man die Riten durchführt, übt man sich in gewissem Sinne darin, bestimmte Werte öffentlich zu respektieren. Unserer Interpretation von Konfuzius nach ermöglicht dies, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Zum einen begünstigen die Riten das Fördern der betreffenden Werte innerhalb der Gemeinschaft; tatsächlich erkennen die Menschen innerhalb eines Gemeinwesens diese Werte an den Riten, denen sie folgen und zu deren Beachtung sie dadurch implizit aufrufen, wie auch durch ihre eigene Fähigkeit zur Menschlichkeit den an den Riten Teilnehmenden gegenüber. Zum anderen ermöglichen die Riten das Integrieren dieser Werte. In der Tat stellt eine Person beim Befolgen eines Ritus eine intime Beziehung zwischen ihrer Handlung und denjenigen Werten her, die ihre Handlung obligatorisch machen; dies erlaubt ihr, durch das Erfahren von rituellen Handlungen, die betreffenden Werte zu erfahren. Dadurch kann der Wert, der zwar eine bestimmte Verpflichtung begründet aber ansonsten unpersönlich bleibt, für die betreffenden Personen persönlich werden.

Am vorherigen Beispiel anschliessend könnte man sagen, ein Tischritual fördere den Respekt zwischen Ehemann und Ehefrau, indem beide die innere Haltung der jeweiligen Gesten des Gegenübers wahrnehmen und dadurch die konkrete Erfahrung von Respekt machen. Wenn diese Interpretation zutrifft, könnte man Konfuzius die Idee zuschreiben, dass die Befriedigung gewisser ethischer Normen, sofern sie kodiert und durch die Riten öffentlich gemacht sind, die Förderung und Integration derjenigen Werte begünstigt, auf denen sie beruhen. Die Riten dienten demnach im konfuzianischen Denken dazu, Werte zu kommunizieren und in Tat umzusetzen.

Gemäss Konfuzius misst sich die Moralität einer Person also daran, wie weit sieren integriert hat, welches die Person als moralischen Akteur innerhalb seiner sakralen Beziehungen mit den anderen ausmacht. Aber vielmehr als sich irgendwelchen sozialen Konventionen zu unterstellen, berücksichtigt die vorbildhafte Person in jeder Situation, was angemessen ist, und handelt dementsprechend. Sie muss praktische Vernunft unter Beweis stellen um zu entscheiden, welche Dinge miteinbezogen werden müssen, um die jeweiligen Handlungprinzipien zu bestimmen und also in der Weise zu handeln, die dem Ideal der Menschlichkeit am nächsten kommt.

Wie bereits erwähnt ist ein beständiges und rigoroses Lernen notwendig, um sich dem Modell der vorbildhaften Person anzunähern. Dieser berühmte Ausschnitt aus den Analekten illustriert diesen Punkt: „Als ich fünfzehn war, war mein ganzer Wille aufs Lernen ausgerichtet. Mit dreissig Jahren stand ich fest. Mit vierzig Jahren hatte ich keine Zweifel mehr. Mit fünfzig kannte ich den Willen des Himmels. Als ich sechzig war, hatte ich ein feines Gehör, um das Gute und das Böse, das Wahre und das Falsche herauszuhören. Mit siebzig konnte ich den Wünschen meines Herzens folgen, ohne das Mass zu überschreiten.“ (Analekten 2.4, Übers. Moritz)

Aber das gute Leben gemäss Konfuzius umfasst nicht nur die rituelle Teilnahme an sorgfältig gepflegten zwischenmenschlichen Beziehungen, sondern auch ästhetische Wertschätzung und intellektuelle Tätigkeit. Um das Ideal der Menschlichkeit umzusetzen, muss sich die vorbildhafte Person intensiv intellektuell betätigen, weniger für rein theoretische oder kontemplative als für angewandte ethische Zwecke, das heisst im Sinne eines sich Kümmerns um andere Personen und einer Verpflichtung, sich für eine bessere Welt einzusetzen. Die vorbildhafte Person sollte auch einen Geschmack für Musik und Poesie besitzen, da diese Formen des ästhetischen Bewusstseins wesentlich für die Erziehung und die Aneignung der Tugenden ist. Doch aus welchen Gründen genau, sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser, sollte ästhetisches Bewusstsein notwendig sein für das Aneignen der Tugenden? Wir würden uns sehr freuen, Ihre Ansichten zu dieser Frage zu erfahren, beispielsweise auf unserer Leserplattform. Was die unsrige anbelangt, werden Sie diese – so hoffen wir – bald entdecken.

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