Einleitung

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Pro Ethica – think tank en sciences morales setzt sich in jedem Newsletter mit einer ethischen Fragestellung auseinander. Anhand der Ansichten einer für die jeweilige Thematik ausgesuchten Gruppe von Experten versuchen wir das ethische Problem zu umschreiben und die vorhandenen Lösungsvorschläge darzulegen. Schliesslich beziehen wir (argumentierend) Stellung für die uns am meisten überzeugende Lösung. Unsere LeserInnen können uns ihre Reaktionen auf der Leserplattform mitteilen.

Die Debatte über den Speziesismus^

Für unseren Newsletter von Februar-März 2012 haben wir eine These ausgesucht, die unsere üblichen Annahmen in Bezug auf den moralischen Status von Tieren 1 in Frage stellt: den Speziesismus. Nach unserem Verständnis stellt der Speziesismus die folgende These auf:

(S) Die Interessen von Tieren zählen unter sonst gleichen Bedingungen moralisch stets weniger als die Interessen von Menschen.

Die sichtbarsten Konsequenzen dieser These können in denjenigen Wirtschaftsbereichen beobachtet werden, die am meisten vom (Aus-)Nutzen von Tieren abhängen: der Nahrungsmittelindustrie, der Pharmazeutik und der biomedizinischen Forschung. Diese drei Bereiche beruhen auf der (impliziten) Annahme des Speziesismus: Wenn die Interessen von Tieren unter sonst gleichen Bedingungen nicht stets weniger zählen würden als die Interessen von Menschen, würden die Interessen von Tieren, die zur Gewinnung eines Nahrungsmittels, eines Moleküls oder statistischer Daten verwendet werden, manchmal mindestens ebensoviel zählen wie die Interessen von Menschen, die aus diesem Nahrungsmittel, diesem Molekül oder diesen Daten Nutzen ziehen. Insofern wäre die Nutzniesser zu einer Rechtfertigung verpflichtet, indem sie erklären, warum das (Aus-)Nutzen von Tieren moralisch akzeptabel ist.

Gegen die speziesistische These führen gewisse Philosophen folgendes Argument ins Feld 2:

Prämisse I (nachfolgend PI). Gewisse Tiere besitzen Empfindungsfähigkeit.

Prämisse II (PII). Empfindungsfähigkeit ist notwendig und hinreichend um moralische Berücksichtigung zu verdienen.

Prämisse III (PIII). Wenn ein nicht-menschliches Tier moralische Berücksichtigung verdient, trifft es nicht zu, dass die Interessen eines Tieres unter sonst gleichen Bedingungen moralisch stets weniger zählen als die Interessen eines Menschen – der Speziesismus ist falsch.

Konklusion (K). Der Speziesismus ist falsch.

In diesem Dossier interessieren wir uns nicht für die These, welche die Anhänger dieses Arguments – die Antispeziesisten – an die Stelle des Speziesismus stellen möchten. Ebenso interessieren wir uns nicht für die praktischen Implikationen der Debatte, seien diese politischer („Welche Gesetze sollte der Staat erlassen, wenn der Speziesismus falsch ist?“) oder persönlicher Art („Wie muss ich meine Konsumgewohnheiten ändern, wenn der Speziesismus falsch ist?“). Wir interessieren uns ausschliesslich für die Gründe, welche die Anti-Speziesisten zur Verteidigung ihres Arguments vorlegen. Die praktischen Konklusionen unserer Erörterung lassen wir alle betroffenen Personen selber ziehen.

Übersicht über das Dossier und die Gesprächspartner^

Unser Dossier ist in drei Teile gegliedert, die sich in Form und Länge unterscheiden. Der erste – lange aber faszinierende – Teil gilt unserem Interview mit Sarah Heiligtag – Ethikerin bei der Stiftung Mensch und Tier in Basel. Sie erklärt, angestossen durch unsere Fragen, die erste Prämisse und schlägt eine Verteidigung der zweiten Prämisse vor, durch Biologie und kognitive Wissenschaften inspiriert. Im zweiten Teil des Dossiers fassen wir die Position unserer zwei anderen Gesprächspartner zusammen, Angela Martin – Doktorandin am Institut für biomedizinische Ethik der Universität Genf – und François Jacquet – Doktorand am Philosophiedepartement der Universität Genf. Dabei präsentieren wir ein wichtiges Argument zur Rechtfertigung der dritten Prämisse des antispeziesistischen Arguments. Im dritten Teil schliesslich antworten wir unseren Gesprächspartnern, indem wir suggerieren, dass eine Position verteidigt werden kann, die zwischen ihrer (anti-speziesistischen) Position und derjenigen des Speziesismus liegt.

Vorher aber müssen einige Hinweise zu den verwendeten Begriffen gegeben werden, sowie zu den Thesen, die alle Diskussionsteilnehmer voraussetzen.

Der Jargon und einige Voraussetzungen der Debatte^

Empfindungsfähigkeit (PI und PII) und moralische Berücksichtigung (PII und PIII). Empfindungsfähigkeit meint – wie Sarah Heiligtag weiter unten erklärt (siehe „Interview mit Sarah Heiligtag“) – die Fähigkeit von Tieren, Schmerzen zu empfinden. Diese Fähigkeit ist den Tieren eigen: Nur Tiere besitzen einen mit dieser Fähigkeit ausgestatteten Organismus. Im antispeziesistischen Argument wird den Tieren aufgrund ihrer Empfindungsfähigkeit in einem individuellen – und nicht kollektiven – Sinn ein moralischer Status zugesprochen: Unsere moralischen Verpflichtungen den Tieren gegenüber rühren daher, dass jedes einzelne Tier Empfindungsfähigkeit besitzt. Den Anhängern dieses Arguments gemäss ist dies der Grund dafür, dass Tiere moralische Berücksichtigung verdienen: Sie haben moralischen Akteuren – den Menschen – gegenüber Ansprüche, welchen diese in Form von moralischen Verpflichtungen (bzw. davon angesonnenen Handlungen) nachzukommen haben.

Im Gegensatz dazu hängen unsere moralischen Verpflichtungen der Umwelt gegenüber nicht mit der Empfindungsfähigkeit jedes einzelnen Organismus zusammen. Viele Organismen in der Natur besitzen keine Empfindungsfähigkeit, z.B. Grashalme. Im Rahmen dieser Debatte wird vorausgesetzt, dass unsere moralischen Verpflichtungen Tieren gegenüber (falls wir solche Verpflichtungen haben) jedem einzelnen Tier gegenüber zum tragen kommen, während unsere moralischen Verpflichtungen der Umwelt gegenüber (falls wir solche haben) die Umwelt als Gesamtes betreffen. Dieser Unterschied wird durch die Empfindungsfähigkeit begründet 3.

Des weiteren muss angemerkt werden, dass das Konzept des moralischen Akteurs mit demjenigen des „moralischen Patienten“ verbunden ist (ein moralischer Patient ist jemand, der moralische Ansprüche geltend machen kann, welche wiederum von moralischen Akteuren in Form von moralischen Verpflichtungen berücksichtigt werden müssen) 4. Wenn ein Individuum moralische Verpflichtungen hat, ist es auf der anderen Seite ebenfalls „Nutzniesser“ von moralischen Verpflichtungen, welche die anderen moralischen Akteure ihm gegenüber haben. Dies folgt aus dem traditionellerweise in der Philosophie verwendeten Konzept der Verpflichtung: Obligatorisch (verpflichtend) sind auschliesslich Handlungen, und eine Spezifizierung der Gründe, weshalb sie es sind, beinhaltet immer, auf andere durch diese Handlung betroffene Individuen Bezug zu nehmen.

Schliesslich muss angemerkt werden, dass das Konzept des moralischen Patienten (also eines moralische Berücksichtigung verdienenden Individuums) sich nur bei einen kleinen Teil der lebendigen Individuen mit demjenigen des moralischen Akteurs überschneidet, nämlich bei moralisch verantwortlichen Menschen. Gewisse Menschen mit einer Beeinträchtigung ihrer kognitiven Fähigkeiten sind keine moralischen Akteure, da sie aufgrund dieser Beeinträchtigung nicht moralisch verantwortlich sein können. Ebenso sind Kinder vor einem bestimmten Alter nicht moralisch verantwortlich, aufgrund der noch unvollendeten Entwicklung ihrer kognitiven Fähigkeiten. Schliesslich sind auch Tiere nicht moralisch verantwortlich, da sie nicht über die erforderten kognitiven Fähigkeiten verfügen 5.

Die erste wichtige Frage für die Debatte um den Speziesismus lautet also: Warum verleiht die Empfindungsfähigkeit den Tieren einen moralischen Status?

Das Prinzip der gleichen Berücksichtigung (PIII). Der Satz „Die Interessen von Tieren zählen unter sonst gleichen Bedingungen moralisch stets weniger als diejenigen von Menschen“ bezieht sich – wie dies unsere Gesprächspartner voraussetzen – auf ein Grundprinzip jeder ethischen Theorie. Dieses Prinzip lautet:

(G) Alle Individuen, die moralische Berücksichtigung verdienen, müssen grundsätzlich gleich berücksichtigt werden.

(G) ist eine nicht verhandelbare These in der Ethik. Jede ethische Theorie, die man anzunehmen beschliesst, muss diese These miteinbeziehen. Grund dafür ist, dass die ethische Theorie ansonsten die Möglichkeit nicht ausschlösse, dass diskriminierendes Handeln gewissen moralischen Patienten gegenüber stets erlaubt ist, was wiederum für eine ethische Theorie absurd wäre. Jedoch darf die Theorie auch die Möglichkeit nicht ausschliessen, dass diskriminierendes Handeln gewissen moralischen Patienten gegenüber manchmal moralisch erlaubt ist – dies wird dadurch gezeigt, dass positive Diskriminierung manchmal moralisch erlaubt ist. Daher wird durch (G) allen moralischen Akteuren, die eine ethisch relevante Entscheidung zu treffen haben, folgender Zwang auferlegt: Wenn die Umsetzung der betreffenden Entscheidung eine Diskriminierung beinhaltet, muss diese Diskriminierung gerechtfertigt werden, und zwar mit Bezug auf ein Prinzip, das kompatibel ist mit der durch den moralischen Akteur verwendeten ethischen Theorie.

In der Tat erweist es sich als schwierig – so bekommen wir von unseren Gesprächspartnern gezeigt – ein Kriterium zu finden, das die genannte Bedingung erfüllt, um die vom Speziesismus geforderte ungleiche moralische Berücksichtigung rechtfertigen zu können. Die zweite wichtige Frage in der Debatte um den Speziesismus lautet demnach: Wie müssen wir dem moralischen Status der Tiere Rechnung tragen um unsere sie betreffenden Handlungen zu bewerten?

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Notes:

  1. In diesem Dossier sind mit dem Begriff „Tier“ alle Tiere gemeint, welche nicht der Spezies Homo Sapiens Sapiens angehören.
  2. Oder eine dieser Formulierung ähnliches Argument, wobei der Unterschied der in diesem Dossier verfolgten argumentativen Linie nichts anhat.
  3. Eine Frage, die wir Sarah Heiligtag gestellt haben, ist die folgende: Wenn Empfindungsfähigkeit zu haben beinhaltet, einen moralischen Status zu haben (das heisst Nutzniesser von moralischen Verpflichtungen zu sein), beinhaltet, umgekehrt, einen moralischen Status zu haben, empfindungsfähig zu sein? Mit anderen Worten: Rührt ein moralischer Status ausschliesslich von Empfindungsfähigkeit her? Diese Frage interessiert uns, ist aber nicht unentbehrlich für das Argument: Damit dieses gültig ist, genügt es, dass Empfindungsfähigkeit zu haben impliziert, einen moralischen Status zu haben.
  4. Die genaue Beziehung zwischen „ein moralischer Patient sein“ und „moralisch verantwortlich sein“ ist eine interessante Frage, welche wir hier umgehen.