Die Position unserer Gesprächspartner zur dritten Prämisse des Arguments

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Die dritte Prämisse beruht auf folgendem Grundsatz:

(AntiSpe) Den Interessen aller Individuen gegenüber ist gleiche moralische Berücksichtigung geboten, unabhänging von der Spezies der Individuen.

Schauen wir, wie unsere Gesprächspartner — Angela Martin und François Jaquet — diesen Grundsatz verteidigen.

Zunächst einmal gehen sie vom allgemeinen Grundsatz der gleichen Berücksichtigung der Interessen aus:

(Allg) Für alle x und für alle y verhält es sich so, dass die Interessen von x nicht mehr als die gleichen 1 Interessen von y zählen.

Sie halten diese Klausel für den Grundstein einer jeden plausiblen ethischen Theorie. Dies ist offensichtlich für den Utilitarismus, aber es trifft ebenso auf deontologische Theorien zu 2. Der Utilitarismus beschränkt sich auf einen Grundsatz des Nicht-Übelwollens (non-malveillance), „verursache so wenig Leid wie möglich“, sowie auf einen Grundsatz des Wohlwollens (bienveillance), „bewirke so viel Glück wie möglich“. Um das Glück zu maximieren und das Leiden zu minimieren, wie es der Utilitarismus propagiert, ist es geboten, die Interessen gleich zu berücksichtigen. Doch diese Grundsätze des Wohlwollens und des Nicht-Übelwollens stehen nicht nur im Zentrum des Utilitarismus, sie sind auch wichtig für die deontologischen Theorien. Letztere wären unplausibel, wenn sie die Interessen der Individuen nicht berücksichtigen würden. Ebenso unplausibel wäre eine Theorie, gemäss der die Interessen von gewissen Individuen wichtig sind, nicht aber die Interessen von gewissen anderen Individuen. Was deontologische Theorien kennzeichnet sind die Einschränkungen, die sie dem Grundsatz der gleichen Berücksichtigung der Interessen auferlegen, und zwar in der Gestalt von anderen Grundsätzen wie den Verboten von Folter, Mord oder Lüge. Einige dieser Grundsätze gehen einher mit einer Gewichtung der Interessen. Zum Beispiel:

(Straf) Die Interessen derjenigen, die ihre moralischen Verpflichtungen nicht respektieren, zählen weniger als die Interessen derjenigen, die ihre moralischen Verpflichtungen respektieren.

Dieser Unterschied zwischen Utilitarismus und Deontologie führt zu einer weiteren Differenz. Da die Deontologisten Grundsätze akzeptieren, die eine Ausnahme vom Grundsatz der gleichen Berücksichtigung darstellen oder die dessen Anwendung einschränken, müssen sie diese Ausnahmen rechtfertigen. Anders als die Utilitaristen benötigen die Deontologisten also eine Methode, um die Akzeptierbarkeit ihrer Grundsätze aufzuzeigen.

Gemäss unseren Gesprächspartnern ist die populärste Methode, um einen moralischen Grundsatz zu etablieren, das Prüfen unserer moralischen Intuitionen, manchmal auch „reflektiertes Gleichgewicht“ (engl. reflective equilibrium/franz. équilibre réfléchi) genannt. Für die vorliegende Debatte nehmen sie sich vor, diese Methode – ohne sie vollumfänglich gutzuheissen – zu akzeptieren.

Die Situation ist also die folgende: Der Utilitarismus impliziert ziemlich direkt die gleiche Berücksichtigung der Interessen, unabhängig von der Spezies. Unsere Gesprächspartner geben sich aber nicht mit einem Anti-Speziesismus zufrieden, der an die Annahme des Utilitarismus gebunden ist. Sie wollen dafür argumentieren, dass (AntiSpe) zutrifft, selbst wenn man einen deontologischen Rechtfertigungsstandard verwendet.

Die Methode zur Überprüfung der Resultate sei also die folgende: Startpunkt ist der allgemeine Grundsatz der gleichen Berücksichtigung der Interessen, (Allg). Anschliessend wird von Fall zu Fall geschaut, welche Grundsätze die Unterstützung unserer Intuitionen erhalten und welche Ausnahmen von (Allg) demnach gerechtfertigt sein würden. Der Grundsatz des Speziesismus (nachfolgend „Spe“), wonach die Interessen von Tieren weniger zählen als diejenigen von Menschen, wäre demnach gerechtfertigt, wenn und nur wenn dessen Implikationen den Zuspruch unserer moralischen Intuitionen erhalten.

Wie zu erwarten war, verneinen unsere Gesprächspartner, dass die genannte Bedingung durch diesen Grundsatz erfüllt werden kann. Ihres Erachtens kann also die Eingliederung des Grundsatzes (Spe) in eine plausible ethische Theorie auch nach den deontologischen epistemischen Standards nicht gerechtfertigt werden.

Noch bevor wir ihr Argument präsentieren, müssen wir anmerken, was genau der Grundsatz der gleichen, von der Spezies unabhängigen Berücksichtigung (AntiSpe) impliziert und was nicht.

Erstens ist es so, dass unterschiedliche Interessen von unterschiedlich grosser Wichtigkeit sind. So ist Toms Interesse, zum Zahnarzt zu gehen, um seine böse Karies behandeln zu lassen, wichtiger als sein Interesse, dem Zahnbohrer zu entgehen, da Tom leiden wird, wenn seine Karies nicht behandelt wird. Masochismus einmal beiseite gelassen, haben wir ein Interesse nicht zu leiden, und je grösser das Leiden, desto grösser das Interesse, dieses Leiden nicht zu erleiden. Aus dieser banalen Betrachtung folgt, dass (AntiSpe) nicht impliziert, dass die Interessen von Menschen nie gegenüber den Interessen von Tieren bevorzugt werden dürfen. Nach diesem Grundsatz könnte es beispielsweise moralisch erlaubt sein, einem Hund seine Freiheit zu entziehen um ihn als Blindenhund zu dressieren: Das Freiheitsbedürfnis des Hundes ist als weniger gewichtig zu beurteilen angesichts des daraus resultierenden Nutzens. Gemeint ist, dass für die Gewichtung irrelevant ist, dass das eine Interesse einem Tier gehört und das andere einem Menschen. Um herauszufinden, ob eine Handlung moralisch erlaubt ist, genügt es, die respektiven Interessen der betroffenen moralischen Patienten zu gewichten und dann die Situation anhand der gewählten normativen Theorie zu beurteilen. 3.

Zweitens ist es so, dass (AntiSpe) nicht notwendigerweise impliziert, dass – wann immer ein menschliches Interesse mit einem wichtigeren Interesse eines Tieres in Konflikt steht – das menschliche Interesse geopfert werden muss. Im Notfalle eines Brandes beispielsweise, wenn Sie entscheiden müssen, ob Sie Ihre Grossmutter (die stark leidet) oder deren Hund (der noch stärker leidet) retten, besagt der Grundsatz nicht unbedingt, dass Sie der Rettung des Hundes den Vorzug geben sollen. Freilich impliziert der Grundsatz in seiner Version des Akt-Utilitarismus 4[franz. utilitarisme de l'acte; engl. Act Utilitarianism] genau dies, aber die hier verwendete Methode erlaubt es unseren Gesprächspartnern, diese kontra-intuitive Implikation zu umgehen.

In der Tat gibt es einen Grundsatz, der als Ausnahme vom allgemeinen Grundsatz der gleichen Berücksichtigung der Interessen (Allg) gelten kann, laut dem es uns moralisch erlaubt ist, den Interessen der uns Nahestehenden den Vorzug zu geben. Da dieser Ausnahme-Grundsatz den Zuspruch unserer Intuitionen erhält, gebührt ihm Platz in einer plausiblen deontologischen Theorie. Was für unsere Gesprächspartner zählt ist die Unabhängigkeit dieses Grundsatzes vom Begriff der Spezies, was eindeutig der Fall ist.

Wir haben zwei fehlerhafte Interpretationen der dritten Prämisse vorweggenommen: diejenige der Inkompatibilität mit der Gewichtung von Interessen, und diejenige der Inkompatibilität mit der Intuition, laut der es unter gewissen Umständen moralisch erlaubt ist, den Interessen von Menschen den Vorzug vor Interessen von Tieren zu geben. Im ersten Fall reicht es, die Wichtigkeit des gegebenen Interesses zu betrachten; im zweiten Fall genügt es, die Ausnahme vom allgemeinen Grundsatz der gleichen Berücksichtigung durch einen Grundsatz zu begründen, der von einer starken Intuition getragen und unabhängig vom Begriff der Spezies ist. Betrachten wir nun die positiven Gründe unserer Gesprächspartner zur Verteidigung der dritten Prämisse.

Wie wir gesehen haben, ist diese Prämisse gerechtfertigt, solange kein Grundsatz, der den Begriff der Spezies enthält, den Zuspruch unserer Intuitionen erfährt. Unsere Gesprächspartner müssen also zeigen, dass kein Grundsatz die nötige Unterstützung von unseren Intuitionen hinter sich zu scharen vermag. Hier ist ihr Argument:

Zwei Arten von Grundsätzen haben Aussicht, die Prüfung unserer Intuitionen zu bestehen: einerseits ein Grundsatz, der sich direkt auf die Spezies bezieht, und andererseits ein Grundsatz mit Bezug auf ein typisch menschliches Charakteristikum. Hier ein Beispiel der ersten Art:

(Spe1) Die Interessen der Mitglieder der menschlichen Spezies zählen mehr als die Interessen der Mitglieder der anderen Spezies.

Un ein Beispiel der zweiten Art:

(Spe2) Die Interessen der moralischen Akteure zählen mehr als die Interessen der blossen moralischen Patienten.

Laut unseren Gesprächspartnern besteht – anders als es den Anschein macht – keine dieser zwei Grundsätze die Prüfung unserer Intuitionen. Gehen wir sie der Reihe nach durch.

Unsere Gesprächspartner gestehen ein, dass (Spe1) für viele von uns die intuitive Implikation hat, dass unsere Praktiken im Umgang mit Tieren gerechtfertigt seien. Sie denken aber, dass (Spe1) auch unannehmbare (d.h. sehr kontraintuitive) Implikationen hat. Um dies zu zeigen führen sie folgendes Gedankenexperiment ins Feld:

Vor einigen Jahrhunderten haben sich ohne unser Wissen Ausserirdische auf der Erde niedergelassen. Ohne die geringste Vermutung unsererseits haben sie sich vollständig in unsere Gesellschaften integriert, so dass sie heute nicht mehr und nicht weniger gute Absichten als die Menschen verfolgen, nicht mehr und nicht weniger intelligent sind, und sich lediglich durch ihre Spezies von uns unterscheiden: Biologisch gesehen sind sie keine Menschen. Mehrere Jahrhunderte nach der Ankunft ihrer Vorfahren wissen auch deren Nachkommen selbst nicht mehr, dass sie keine Menschen sind.

Stellen wir uns nun vor, wir würden dies entdecken. Laut (Spe1) zählen die Interessen dieser Ausserirdischen moralisch weniger als die Interessen der Menschen. Das Problem besteht nach unseren Gesprächspartnern darin, dass wir – falls wir dies akzeptieren – keine Gründe mehr vorzubringen haben gegen Rassismus (die Idee, dass zum Beispiel die Interessen der Weissen mehr zählen als die der Schwarzen) und Sexismus (die Idee, dass zum Beispiel die Interessen der Männer mehr zählen als die Interessen der Frauen). In der Tat ist der offensichtliche Grund, weshalb Rassismus und Sexismus falsch sind, dass die einfachen biologischen Grenzen für die Gewichtung der Interessen nicht relevant sind. Wie das Gedankenexperiment mit den Ausserirdischen zeigt, tritt (Spe1) mit dieser Idee in Konflikt. Dieser Grundsatz hat demnach die kontraintuitive Implikation, uns um den Hauptgrund zu bringen, warum Rassismus und Sexismus abzulehnen sind. Es scheint also klar, dass dieser Grundsatz nach Abwägung aller Umstände den Zuspruch unserer Intuitionen nicht erhalten kann.

Der Einwand gegen (Spe2) lautet anders. Die kontraintuitive Implikation von (Spe2) ist direkter: Da zahlreiche Menschen – mental Beeinträchtigte, Neugeborene, von Senilität Betroffene – die nötigen Fähigkeiten nicht besitzen um moralische Akteure zu sein, impliziert (Spe2) eine weniger starkes Gewichtung ihrer Interessen gegenüber den Interessen der Menschen, die diese Fähigkeiten besitzen. Unsere Gesprächspartner zählen auf diese kontraintuitive Implikation, um (Spe2) von der Liste der möglichen Ausnahmen zum allgemeinen Grundsatz der gleichen Berücksichtigung zu streichen. Man beachte, dass die Erwähnung der moralischen „Akteurschaft“ für dieses Argument, welches unter dem Namen „Argument der marginalen Fälle“ 5 bekannt ist, nicht wesentlich ist. Ein analoges Argument der marginalen Fälle existiert für jedes Charakteristikum, das Menschen typischerweise haben.

François Jaquet fasst dies folgendermassen zusammen:

“Wir haben ein Trio von Intuitionen, welche nicht zusammengehen: Erstens haben wir die Intuition, dass die Interessen von Menschen mehr zählen als jene von Tieren; zweitens die Intuition, dass die Interessen von schwer beeinträchtigten nicht weniger zählen als jene von normalen Menschen; und drittens die Intuition, dass die Interessen der Ausserirdischen nicht weniger als jene der Menschen, und die der Schwarzen und der Frauen nicht weniger als jene der Weissen und der Männer zählen. Da aber die erste Intuition die einzige ist, die eine Ausnahme vom Grundsatz der gleichen Berücksichtigung nötig macht, und da die zweite sowie die dritte Intuition stark sind, gebietet uns unsere Methodologie, die erste Intuition zurückzuweisen.”

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Notes:

  1. Die Interessen A sind identisch mit den Interessen B wenn A und B die gleiche Wichtigkeit haben. Siehe weiter unten.
  2. Während utilitaristische (oft auch: konsequentialistische) Theorien die Moralität einer Handlung mit Bezugnahme auf das hervorgerufene Wohl (Gut; franz. bien, eng. good) bewerten, tun dies die deontologischen Theorien mit Bezugnahme auf die Beziehung einer Handlung auf eine Norm.
  3. Die Frage der Gewichtung der jeweiligen Wichtigkeit der Interessen hängt von der Konzeption des Interesses ab, die man ansetzt. Siehe das Interview mit Sarah Heiligtag zu dieser Frage. Wenn man damit einverstanden ist, Interessen mit Werten zu identifizieren, in dem Sinne dass ein moralischer Patient ein Interesse an X hat, wenn X einen Wert für diesen moralischen Patienten darstellt, ist die Wichtigkeit des Interesses Funktion des betreffenden Wertes.
  4. Der Akt-Utilitarismus ist eine Version des Utilitarismus. Nach dieser Version hängt die Moralität einer Handlung mit dem durch die Handlung (den Akt) produzierten Wohl zusammen, alle anderen Dinge ausschliessend. Demgegenüber hängt die Moralität einer Handlung laut einer anderen Version des Utilitarismus – dem Regel-Utilitarismus – vom Wohl ab, das durch Handlungen hervorgerufen wird, die von der Anwendung eines bestimmten moralischen Grundsatzes (einer Regel) herrühren.
  5. Man beachte, dass dem Adjektiv „marginal“ hier die pejorative Konnotation aus anderen Kontexten abgeht. Es bedeutet ganz einfach „nicht-paradigmatisch“.