Was ist «der Westen»?
Was ist «der Westen»?
Und wie stehen wir zu ihm?
Der Westen ist unsere Zivilisation. Diese ist so umfassend wie sie schwer zu fassen ist. Einerseits ist «der Westen» das vielleicht einflussreichste zivilisatorische Gebilde in der Geschichte der Menschheit. Das Ausmass seines politischen und kulturellen Einflusses reicht um die Welt. Seine Denkkategorien sind so verbreitet wie sein Schriftsystem, und aus ihm stammende Technologien und Weltanschauungen durchdringen die meisten Ecken der Erde. Der vom Westen ausgehende Einfluss ist allgegenwärtig – zu jeder Zeit und beinahe überall.
Andererseits ist der Westen kein offensichtlich einheitliches und geschlossenes Gebilde. Geographisch erstreckt er sich über mehrere Kontinente. Dabei kennt er eine beträchtliche gesellschaftliche und sprachliche Vielfalt. Auch politisch ist er kein einfach erkennbar zentralisiertes Gebilde. Wer «den Westen» mit bestimmten Teilen des Westens gleichsetzt, läuft Gefahr, sich in vage Vereinfachungen oder, schlimmer, in tendenziöse Täuschungen einzulassen.
Während der Einfluss des Westens so überwältigend ist, dass ihm kaum jemand auf der Erde entkommen kann, haben durchschnittliche «Westler» nicht unbedingt eine klare Vorstellung davon, inwiefern «der Westen» sie prägt und ausmacht. Nicht selten ist der Westen kein zentraler Teil im eigenen Weltbild und der eigenen Identität. In der politischen Sphäre hingegen neigen Befürworter des geopolitischen Westens – tendenziell in Nähe der Machtzentren entlang der Achse Washington-London-Brüssel – dazu, westliche Einheit zu suggerieren und zu beschwören.
Es gibt keine «Westologen», welche die Frage nach dem Westen für uns klären könnten, noch gibt es eine einzige spezifische dem Studium des Westens gewidmete wissenschaftliche Disziplin. Dafür beschäftigen sich nahezu sämtliche Disziplinen – und nicht nur im Westen – mit Aspekten des Westens, und denken die Welt entlang der Linien der westlichen Zivilisation. Philosophie heisst meistens westliche Philosophie, und Soziologie konzentriert sich überwiegend auf westliche Gesellschaften. In Feldern wie Sinologie, Japanologie oder Russistik wird «der Westen» als implizites Gegenstück vorausgesetzt, ohne dass dies je klar ausgeführt oder hinterfragt wird.
Wer im Westen eine Stimme hatte, betrachtete sich selbst jahrhundertelang als Zentrum der Welt und zivilisatorisches Mass aller Dinge. Berauscht von der eigenen globalen Vorherrschaft und damit einhergehender Hybris hatte der Westen sogar den Luxus, sich nicht als einheitliches Gebilde zu gebärden und sich auch nicht durchs Band als solches zu begreifen.
Über lange Zeit hinweg drehten sich Weltordnungen um im Westen verwurzelte Machtzentren, sei es im unipolaren Moment der letzten Jahrzehnte, in der bipolaren Konfiguration des Kalten Krieges, oder im westzentriert-multipolaren «Konzert europäischer Grossmächte» des langen 19. Jahrhunderts. Doch mit dem Zerfall des unipolaren Moments unangefochtener westlicher – vornehmlich (anglo-)amerikanischer – Vorherrschaft sieht sich der Westen erstmals seit Jahrhunderten einer wirklichen zivilisatorischen Herausforderung gegenübergestellt, sowohl in Bezug auf seine Identität als auch auf seinen Platz in der Welt.
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In langem und intensivem Suchen bin ich bisher keiner überzeugenden Antwort auf die Frage nach dem Westen begegnet. Doch nicht nur eine Antwort auf die Frage fehlt. Auch die Frage selbst wird kaum gestellt. Gibt es ein Problem mit ihr, oder ergibt sie womöglich keinen Sinn? Jedenfalls hört man nicht selten vom Westen – dem Abendland – als einer etwas vage definierten Zivilisation, und öfter noch vom Westen als einem ähnlich vage definierten geopolitischen oder gesellschaftlichen Gebilde.
Die kombinierte Perspektive einer historisch gewachsenen Zivilisation und eines zeitgenössischen gesellschaftlichen oder (geo-)politischen Gebildes erscheint mir sinnvoll. Man kann den Westen als ein Gefüge von gesellschaftlichen Mustern, von Normen und Werten, von Institutionen und Infrastruktur, sowie von über die Geschichte weitergegebenen Sinninhalten verstehen – all dies via Ideen, Sprache und Gesellschaft geformt und vermittelt. Was sind die Kernaspekte der historischen Zivilisation Abendland, die in den heutigen Westen gemündet haben, und die diesen auch heute noch ausmachen? Anders gefragt: Worin besteht der heutige Westen, und wie gründet er in seiner historisch gewachsenen Zivilisation?
Als historisch gewachsene Zivilisation – eine unter vielen – gründet der Westen im romanisierten, germanisierten und christianisierten Westeuropa, in imperialer Kontinuität und Selbstbezug mit dem (west-)römischen Reich, mit kaiserlich-päpstlicher Doppelstruktur, sowie stets dem Bezug auf die alten Griechen im Hintergrund. Das mit diesen Grundfesten gegen das erste Jahrtausend n. Chr. konstituierte Abendland prägte in der Folge seine Renaissance und Modernisierung, und trug diese in die Welt. Über die Jahrhunderte wurde er zunehmend zur zentralen zivilisatorischen Referenz, und hatte dabei sogar die Musse, während seinem Missionieren mit sich universal gebendem Liberalismus, sich selbst an die postmodernen Grenzen der eigenen Unkenntlichkeit zu treiben.
Im unipolaren Moment vollumfänglicher Vorherrschaft angelangt hat der finanzialisierte und wirtschaftlich neoliberale Westen, von der Anglosphäre angeführt, die Expansion des in ihm «beheimateten» globalisierten Finanzkapitals voran- und auf die Spitze getrieben. Arbeiter auf der ganzen Welt sind von seiner Logik der kurzfristigen Profitabilität zum Konkurrenzkampf um sozialen Aufstieg in Prekarität und Stress ermächtigt worden. Dazu haben seine Eliten mit ihren progressiv-liberalen Vorstellungen die Bevölkerungen aller Länder und Zivilisationen beglückt und behelligt. Doch die liberale Hegemonie ist vorbei. Wie Glenn Diesen – in nur leicht anderem Kontext – treffend schreibt: «Die liberale Hegemonie ist nicht länger liberal, und die Hegemonie hat sich erschöpft».
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Die «offizielle» Sicht auf den heutigen Westen wird von supranationalen Organisationen wie der Europäischen Union (EU), der Nordatlantikvertrags-Organisation (NATO) und der Gruppe der Sieben (G7), sowie von den Regierungen der mächtigsten westlichen Länder und den führenden Medien der jeweiligen Diskurssphären vertreten. Dem dort vermittelten Selbstbild zufolge ist der Westen eine Interessen- und Wertegemeinschaft, die Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte sowohl im Innern als auch im Äussern vertritt.
Im globalen Kontext stellt der Westen diesem Selbstbild zufolge den Pol der liberalen Demokratien dar und steht dem Pol der Autokratien gegenüber, welche die «regelbasierte» oder «liberale» globale Ordnung ungerechtfertigterweise in schlechtes Licht stellen würden. Dabei werden Massnahmen wie militärische Interventionen ohne Mandat des UN-Sicherheitsrats oder wirtschaftliche Sanktionen, die nicht im Einklang mit dem Völkerrecht stehen, mitunter als notwendig und legitim angesehen. In Bezug auf den Westen als zeitgenössisches geopolitisches Gebilde steht und fällt alles damit, für wie überzeugend man dieses Selbstbild angesichts des real existierenden Westens hält.
Das Selbstbild des geopolitischen Westens ruht im Kern auf zwei impliziten Grundannahmen. Auf den Punkt gebracht lauten diese «wir sind die Guten» – das heisst, eine auf überlegene moralische Werte gebaute und de facto moralisch überlegene Gesellschaft – und «wir haben das Recht oder die Pflicht, in Bezug auf andere aktiv zu werden» – auch ohne globalen Konsens und unabhängig vom internationalen Recht. Dies bedeutet nicht weniger, als dass Massnahmen wie politischer und wirtschaftlicher Druck, zum Beispiel durch Sanktionen oder Androhungen derselben, durch Eingriffe in innere Angelegenheiten, sowie bisweilen durch militärische Interventionen, in Ordnung wären.
Einer kritischeren Sicht nach ist der real existierende Westen jedoch in erster Linie darauf aus, seine Vormachtstellung – seine Hegemonie – zu bewahren. Demnach wird die unipolar-hegemoniale Weltordnung der letzten drei Jahrzehnte hauptsächlich durch Washington (die USA), London (Grossbritannien) und Brüssel (EU und NATO) auf eine Weise durchgesetzt, dass keine «Konkurrenten auf Augenhöhe» (peer competitors) entstehen können, mit dem Ziel, «vollumfängliche Vorherrschaft» (full-spectrum dominance) im militärischen, politischen, wirtschaftlichen und technologischen Bereich aufrechtzuerhalten.
Dieser Sicht nach wird das Ziel der Vormachtstellung nicht zuletzt mit illegitimen Mitteln verfolgt, wie etwa durch Regimewechsel-Operationen, illegale unilaterale Sanktionen und andere Formen von Zwang und Drohungen. Verweise auf Menschenrechte und Demokratie beruhen demnach selten auf Prinzipien, sondern sind weitgehend opportunistisch und heuchlerisch. Darüber hinaus werden Kritiker im Westen selbst sowie unbequeme Politiker in anderen Teilen der Welt mitunter skrupellos zum Schweigen gebracht.
Auf der Suche nach Hinweisen auf Hegemonie wird man nicht nur in den oben zitierten amerikanischen Strategiepapieren und den bereits erwähnten Regimewechsel-Operationen, der wirtschaftlichen Eindämmungspolitik von Rivalen, sowie den illegalen Invasionen fündig. Im militärisch-politischen Bereich kann man Allianzstrukturen, die Umspannung der Welt mit Militärmitteln, das Vorhandensein offensiver Schlagkraft, oder auch die Struktur der globalen Sicherheitsordnung innerhalb der Vereinten Nationen begutachten. Im wirtschaftlichen Bereich wird man bei der globalen Finanzarchitektur sowie der Macht von multinationalen Unternehmen und Technologiemonopolen fündig, darüber hinaus auch in kulturellen Bereichen wie der Unterhaltungsindustrie oder auch der «global-imperialen Lingua Franca» – dem Englischen – und manchem mehr, das als Teil einer unipolar-hegemonialen Weltordnung gedeutet werden kann.
Wie sind all diese Sachverhalte ins offizielle Selbstbild des Grossteils der westlichen Eliten hineinzuweben? Meiner Erfahrung nach werden die meisten dieser Fakten und Interpretationen akzeptiert, da sie schwer von der Hand zu weisen sind. Nicht selten haben mir auch offiziellen Kreisen nahestehende Personen gestanden, dass sie insgeheim das offizielle Selbstbild nur sehr lückenhaft zu verteidigen in der Lage sind. Dennoch wird vor weitergehenden Schlussfolgerungen oft zurückgeschreckt. Wer am offiziellen Selbstbild festhält, argumentiert damit, dass trotz allem der Westen seine Werte immerhin teilweise hochhalten würde. Er täte dies zumindest mehr als die anderen Mächte, oder jedenfalls mehr als andere Mächte in ähnlicher Position es vermutlich täten.
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Die Schweiz gehört zivilisatorisch vollständig zum Abendland. Sämtliche Grundfesten des historischen Westens sind in der Schweiz festzustellen. Die Schweiz entstand überhaupt erst als bereits romanisiertes und germanisiertes früheres Keltengebiet, christianisiert und in der Doppelstruktur weltlicher und geistlicher Herrschaft eingebettet, als sich die Eidgenossen dem imperialen Zentrum des damals dominantesten Gebildes des Westens, dem Heiligen Römischen Reich, im Streben nach grösserer Selbstständigkeit entgegenstellten.
Auch die späteren Begebenheiten der religiösen Spaltung und der wirtschaftlichen und politischen Schritte in die Moderne wurden allesamt von der Schweiz mitvollzogen. Bei verschiedenen Schritten bezüglich Modernisierung – Reformation, Industrialisierung, Liberalisierung, Demokratisierung – war sie gar massgeblich an vorderer Stelle mit dabei. Spannend ist jedoch, dass die Schweiz ab dem frühen 16. Jh. an den imperialen und expansiven Tendenzen des Westens als Staat und als Nation nicht mehr teilgenommen hat. Anders als die grossen europäischen Nachbarn hielt die Schweiz nie Kolonien, und war in der Neuzeit kein nach aussen hin imperialistisches Gebilde, wenn auch bestimmte Individuen und Gruppierungen in europäischen Expansionsschritten mit von der Partie waren.
Viele Schweizer sind der Überzeugung, dass Republik (und nicht Imperium), Demokratie (und nicht Monarchie, Aristokratie oder Oligarchie) und Freiheit (des Individuums, in Verbindung mit dem Gemeinwohl) zu den Grundfesten unseres Staatswesens gehören oder zumindest gehören sollten. Tatsächlich werden politische Auseinandersetzungen auf dieser Grundlage geführt, welche in Theorie niemand in Frage stellt.
Von innenpolitischen Unzulänglichkeiten einmal abgesehen, müssen wir uns aber klar machen und eingestehen, dass der geopolitische Westen die letzten Jahrzehnte als unipolarer Hegemon fungiert hat, und die Schweiz ein gutes Stück in seinem Windschatten mitgefahren ist. Nahe am Herzen des Imperiums, und doch an seinen dunkleren Machenschaften nicht direkt beteiligt, haben wir uns geopolitisch in einer scheinbar vorteilhaften Situation vorgefunden.
Die Fiktion des Westens als die Guten ist uns speziell gelegen gekommen. Die Vorteile des unipolaren Systems schienen klar über die Nachteile zu überwiegen, und so gab es kaum handfeste Anreize, die hegemonial-imperiale Komponente des Westens tiefergehend auszuleuchten. Bei den allzu groben Exzessen von Angriffskriegen und Kriegsverbrechen westlicherseits konnte man zwar immer mal wieder den distanzierten Kritiker geben, aber die Situation systematischer als mässig legitime Vorherrschaft zu betiteln hat man sich im öffentlichen Diskurs kaum erlaubt. Die sich selbst auferlegte Deutungshoheit ist stets unipolar-hegemonial sowie transatlantisch geblieben.
Angesichts der Situation, dass eine multipolare Weltordnung eurasischer Prägung im Entstehen begriffen ist, muss auch die Schweiz über die Bücher. Von einer tiefgreifenden Debatte dazu ist aber wenig zu spüren. Während Schlagworte wie Multipolarität oder Entdollarisierung in jüngster Zeit eine gewisse Verbreitung erfahren haben, ist die eigentliche multipolare Logik der eurasischen Integration – der vielleicht wichtigsten geopolitischen und geoökonomischen Entwicklung unserer Zeit – in zu vielen Köpfen noch nicht einmal präsent.
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Der Westen ist mit ernsthaften Herausforderungen konfrontiert. Doch geblendet von seiner während jahrhundertelanger Vormachtstellung genährten Hybris hat er diese noch nicht einmal richtig verstanden, geschweige denn gangbare und nachhaltige Wege angedacht. Der Übergang in eine multipolare globale Ordnung bedeutet für den Westen nicht nur, dass er seinen Platz in der entstehenden neuen Welt zu finden hat, sondern auch, dass er sich selbst dabei neu definieren und seine eigene Identität umgestalten muss. Der Westen muss eine neue, «post-unipolare» Version seiner selbst prägen.
Es ist für den Westen endgültig Zeit sich der philosophischen Herausforderung zu stellen, sich selbst nicht mehr als Zentrum der Welt zu denken und sich sowohl seines Ausmasses als auch seiner Limiten bewusst zu werden. Einmal die eigenen Grenzen verstanden, respektive aufgezeigt bekommen, wird der Westen gezwungen sein herauszufinden, wer und was er tatsächlich ist. Die Menschen, Völker und Staaten im Westen werden zu entscheiden haben, ob sie wirklich ein eng zusammenhängendes Gebilde sind und, falls ja, worin diese Einheit – ihre gemeinsame Identität – besteht. Derzeit gibt es manche Ansätze und Spuren von Visionen dazu, doch meiner Ansicht nach keine, die überzeugend und kohärent ist und dazu breite Unterstützung geniesst.
Die vielleicht grösste zivilisatorische Herausforderung besteht darin, dass noch nicht klar ist, wie die verschiedenen Identitätsebenen des Westens sich zueinander verhalten können. Anders als China und Indien, und auch Russland, ist der Westen soweit kein Zivilisationsstaat. Er ist kein Gebilde mit einigermassen klar übereinstimmendem und sich überschneidendem Ausmass seiner selbst zum einen als zivilisatorisches und zum anderen als politisches und soziokulturelles Gebilde. Viele Leute sehen sich stärker dem eigenen Nationalstaat als zum Beispiel «Brüssel» oder einem virtuell sich vorgestellten «Westen» verbunden. Ein möglicher Zivilisationsstaat Westen, in dem sich die Nationalstaaten der supranationalen Ebene eines geeinten Westens unterordnen, ist ebenso schwer denkbar wie unklar ist, ob ein solches Gebilde überhaupt wünschenswert wäre.
In dem Sinne ist es tatsächlich vage Vereinfachung oder gar tendenziöse Täuschung, wenn jemand derzeit behauptet, der heutige Westen sei ganz einfach diese oder jene Version seiner selbst. In der heutigen Politik kontextfrei und erklärungslos von «Westen» – «dem Westen» – zu sprechen zu hören, deutet darauf hin, dass man es mit jemandem zu tun hat, der unbemerkt eine bestimmte Version des Westens durchsetzen möchte.
Über die tieferen zivilisatorischen Herausforderungen hinaus bleibt auch reichlich Arbeit an sich selber, wenn man sich dem Ziel, die westlichen Werte Demokratisierung und Freiheitsstreben umzusetzen, annähern möchte. Heute ist hinlänglich bekannt, dass es in vielen westliche Ländern mit Demokratie nicht allzu weit her ist. Vielmehr handelt es sich – mit Wolfgang Streeck und Emmanuel Todd gesprochen – um kaum verschleierte liberale Oligarchien.
Während die sogenannten Marktkräfte nach Expansion und kurzfristigem Gewinn streben, ziehen gewisse Menschen und politische Kreise Zustände vor, in denen den «Marktkräften» Grenzen gesetzt werden. Der demokratische politische Prozess sieht eigentlich vor, dass das dementsprechend geschehen würde. Ein Stück weit ist dies auch der Fall, jedoch sind die neoliberal-kapitalistisch-imperialen Interessen sehr durchsetzungsfähig und wissen regelmässig, demokratische politische Präferenzen in die Schranken zu weisen.
Als Schweizer ist interessant zu beobachten, dass in den meisten sich Demokratien nennenden westlichen Ländern die direkte Mitbestimmung der Bevölkerung eine weitaus geringere Rolle spielt als hierzulande. Anders als in der Schweiz, wo mehrmals jährlich über verschiedenste Dinge abgestimmt wird, beschränkt sich die Ausübung der Demokratie in den meisten anderen Ländern auf die Wahl von Volksvertretern. Spannenderweise geraten Leute, die sich als Demokraten verstehen, in eine argumentative Zwickmühle, wenn sie in ihrem eigenen Land erweiterte Volksrechte ablehnen. Wie kann man sich als Verfechter demokratischer Prinzipien sehen und gleichzeitig der Meinung sein, dass erweiterte Volksrechte keine gute Idee wären?
Um sich mit gutem Gewissen «freiheitliche Demokratien» nennen zu können, bleibt im Westen einiges an imperial-oligarchischen Kräften und Strukturen auch im Inneren zu neutralisieren. Vom Finanzsystem über die «tieferen» Aspekte seines politischen Systems bis hin zu seiner dominanten politökonomischen Logik stehen grosse Baustellen bereit.
Zu Beginn des unipolaren Moments hätte die Gelegenheit bestanden, eine stärker von Win-Win-Zusammenarbeit gekennzeichnete Welt auf die Wege zu bringen. Doch diese Gelegenheit wurde durch eine obsessive Haltung der Nullsummenlogik und des Vormachtdenkens vertan. Anders als in früheren Zeiten kann sich der Westen heute nicht mehr hinter Ausflüchten verstecken, die Welt würde sich einfach auf zynische Art und Weise verhalten. Vielmehr hat man selbst zu zynisch gehandelt und dazu beigetragen, diese Logik zu perpetuieren – während vielleicht die Möglichkeit bestanden hätte, mit einer anderen Haltung voranzugehen und die Welt stärker in Richtung Frieden und Zusammenarbeit und weg von Hegemonie, Imperialismus und Oligarchie zu lenken.
Nach den selbstverursachten Verwerfungen der letzten Jahrzehnte wäre es umso mehr an der Zeit, Einsicht zu zeigen und konstruktiv mit voranzugehen. Soweit ich sehen kann, spricht so weit nichts dagegen, der entstehenden multipolaren Weltordnung eurasischer Prägung eine Chance zu geben. Anders als die Nullsummenspiellogik der eigenen Hegemonie zielt die institutionelle Logik der eurasischen Integration auf Zusammenarbeit hin. Die multipolare Machtverteilung in Eurasien schafft für die Grossmächte den Anreiz, ihre Interessen zu harmonisieren. Auch China ist demnach nicht in der Lage, in einem solchen «Gleichgewicht der gegenseitigen Abhängigkeit» ein hegemoniales System durchzusetzen – ganz abgesehen davon, dass auch nichts darauf hinzudeuten scheint, dass es dies anstreben würde.
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Derzeit sind noch kaum Schritte in Richtung der Konstruktion eines post-unipolaren Westens erkennbar. Während die Elitefraktion der liberalen transatlantischen Hegemonisten versucht, sich am unipolaren Moment der in Washington-London-Brüssel zentrierten Macht festzuklammern, sich dabei um Versionen expansionistischer liberaler Doktrinen schart und stets «westliche Werte» beschwört, stellen sich verschiedene national-souveränistische Kräfte in Europa gegen den NATO-EU-US-Konsens.
Sowohl linke anti-imperialistische und anti-oligarchische Kräfte als auch Kräfte aus dem rechten kulturkonservativen und einwanderungskritischen Lager stellen sich der liberalen Hegemonie von innen her entgegen. Während diese Kräfte an Stärke gewinnen und als populistisch verunglimpft werden, ist mir auch von ihrer Seite bisher keine kohärente Vision eines «post-unipolaren Westens» bekannt. Die konservativen Kräfte scheinen sich zwar im Innern der liberalen Hegemonie entgegenzustellen, haben bisher aber keine Mittel gefunden, ihre Kräfte in eine Führungsriege zu bündeln, welche auch global den Exzessen der eigenen Hegemonie Einhalt zu gebieten bereit wäre. Manche schliessen sich gar den offeneren imperialen Gelüsten aus anglo-amerikanischen Kreisen an, ansonsten bleibt derzeit bloss der Wunsch, einen zweiten starken und autonomen Pol im Westen darzustellen.
Alles in allem scheinen weder die aktuelle Version der westlichen Integration rund um EU, NATO und G7, noch die Alternative eines Zurückfallens auf lose nebeneinander existierende souveräne Nationalstaaten, noch eine mit «America First» kombinierte offen exzeptionalistisch-imperialistische Wende hin zu einem «West First» überzeugende Modelle angesichts aufstrebender eurasischer Mächte in der multipolaren Logik der Zivilisationsstaaten China, Indien, Russland und Iran.
In dieser kritischen Phase scheint mir wichtig, dem Westen ans Herzen zu legen, die bevorstehenden Herausforderungen als Chance zu Wachstum und Reife zu betrachten, anstatt als Grund für ohnmächtiges und wütendes Um-sich-Schlagen. Mir selbst schwebt die Vision einer neuen westlichen Renaissance rund um unsere besten demokratischen (nicht-oligarchischen), republikanischen (nicht-imperialen) und freiheitlichen (Gemeinwohl und Freiheit des Individuums verbindenden) Traditionen vor. Dafür müsste sich der Westen von Hegemonie, imperialer Kontinuität und unredlicher Expansion lossagen. Und er müsste sich als mitspielender und zusammenarbeitender Akteur in ein multipolares Konzert von souveräner Gleichheit unter Staaten und Zivilisationen einfügen.
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Um sich als Schweizer klar darüber zu werden, wie man zum zeitgenössischen Westen steht, kommt man nicht umhin über die geschichtliche Zugehörigkeit hinauszudenken. Man muss sich auch Gedanken dazu machen, worin der Rest des heutigen Westens besteht und was er auf der Welt verkörpert. Man wird sich vergegenwärtigen wollen, welche Rolle zum Beispiel die USA und die NATO auf der Welt spielen. Man wird eine Vorstellung davon brauchen, worin das West-zentrierte globale Finanzsystem besteht, ebenso das Handels- und das Wirtschaftssystem, das System der internationalen Institutionen, oder auch die im Westen ansässigen und vom Westen kontrollierten Kulturinstitutionen wie der Nobelpreis, die Olympischen Spiele, sowie die Sport- und Unterhaltungsindustrie.
Gleichzeitig wird man darüber nachdenken wollen, wie die westlichen Gesellschaften in ihrem Innern wirklich funktionieren. Man wird wissen wollen, wie demokratisch und rechtsstaatlich die westlichen Gemeinwesen eigentlich sind. Da sie es kaum hundertprozentig sein werden, wird man sich fragen wollen, in welchen Händen und Strukturen die übrigen Teile der Macht noch liegen. Und wieder wird man herausfinden wollen, inwieweit das Selbstbild mit der Realität übereinstimmt.
Wenn man feststellen sollte, dass der vom Westen ausgehende Einfluss insgesamt positiv und wohlwollend ist, und dass die innere Funktionsweise in ansprechendem Grad demokratisch und rechtsstaatlich – entsprechend den bei uns akzeptierten Massstäben für moralisch und gut – ist, wird man als schweizerische Werte hochhaltende Bürger mit gutem Gewissen stärkere Annäherung an den (geo-)politischen Westen ins Auge fassen können.
Wenn man aber darauf kommen sollte, dass der Kern der EU-NATO-US-GB-Politik aussenpolitisch darauf aus ist, die Vorherrschaft auf nicht selten fragwürdige Art und Weise aufrechtzuerhalten, und darüber hinaus die westlichen Länder selbst sich im Innern zu nicht vernachlässigbarem Grad undemokratisch verhalten, wäre man als Schweizer in der Zwickmühle.
Als Vertreter und Verteidiger eines republikanisch und souveränistisch angedachten modernen Gemeinwesens müsste man dann entweder seine Werte oder aber seine Bindungen überdenken. Entweder würde man sich – sei es aus Pragmatismus, aus Überzeugung, oder aus Resignation – dem West-Imperium angliedern und sich dabei einzugestehen haben, dass es mit den eigenen Werten nicht ganz so weit her ist. Oder aber man würde alternativ mit Ernsthaftigkeit untersuchen müssen, ob es nicht doch andere Wege und Vorgehensweisen gäbe. Konkret müsste man auch untersuchen, ob das im Entstehen begriffene multipolare Modell nicht doch dem jetzigen unipolaren überlegen sein könnte.
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Wie stehen wir also zum Westen? Meines Erachtens ist diese Frage für die Schweiz nicht weniger als das zentrale Politikum.
Als Nicht-Mitglied von NATO und EU steht die Schweiz irgendwo zwischen eingebunden und doch nicht eingebunden. Wir stehen dem geopolitischen Westen nahe, ob jemand es wollen würde oder nicht, halten aber auch eine gewisse Distanz. Aus vielerlei Gründen ist in jedem Fall freundschaftliche Nachbarschaftlichkeit anzustreben. Mir scheint aber, dass wir von autoritär-imperialen Tendenzen der westlichen Machtzentren – seien diese nach aussen oder nach innen gerichtet – uns entschieden fernhalten sollten.
Auch dazu besteht im Prinzip ein Konsens in der Schweiz. Soweit ich sehen kann, würde jede bewusste Assoziierung mit oligarchischen und imperialen Aspekten des Westens dem Grundgedanken und der Identität der Schweiz widersprechen. Die Diskussion dreht sich einzig um die Einschätzung, worin der reale zeitgenössische Westen im Kern besteht, und welche Rolle er in der Welt spielt. Erst hier gehen die Meinungen auseinander.
Es gilt also, sich ein möglichst aufgeklärtes Bild zum Westen zu schaffen. Dies sollte im Wissen geschehen, dass bisweilen eine erhebliche Diskrepanz besteht zwischen der Realität einerseits und der Art und Weise, wie die Realität dargestellt wird, andererseits. Während «manipulierende Kommunikation» – sprich Propaganda – im Westen bei ferneren Akteuren oft als Grundmodus vorausgesetzt wird, ist das Bewusstsein für die selbstverständlich vorhandenen Verzerrungen und Färbungen in der eigenen Diskurslandschaft weniger ausgeprägt.
Paradoxerweise sind aber Gesellschaften, die sich für frei und demokratisch halten, besonders anfällig für Propaganda. Während zum Beispiel in China jeder weiss, dass von der Regierung und der Partei eine bestimmte Darstellung der Realität zu erwarten ist, die jeweils einen gewissen Wahrheitsgehalt und einen gewissen Propagandaanteil enthalten wird, werden wir Schweizer viel eher getäuscht. Wenn wir annehmen, dass es ob unserer derart gut funktionierenden Demokratie und freien Presse keine grösseren und systematischen Verzerrungen im öffentlichen Diskurs gibt, lässt diese Erwartungshaltung wenig Bereitschaft zu, alles systematisch auf Färbung und Verzerrung zu prüfen.
Jede Realität wird jedoch aus einer bestimmten Perspektive wahrgenommen, und aus einer bestimmten Perspektive und mit bestimmten Absichten dargestellt oder vermittelt. Jede Perspektive wiederum beinhaltet notwendigerweise eine Auswahl, eine Betonung, eine Filterung und eine Umrahmung der darzustellenden Sachverhalte. Selbst ein sich der Wahrheitsfindung verpflichtender Journalist kommt nicht umhin zu entscheiden, welche Aspekte eines Phänomens ausgewählt zu werden verdienen, welche Aspekte hervorgehoben und welche gestrichen gehören, und wie das Ganze eingerahmt werden soll.
Eine Färbung und Verzerrung der allgemeinen Perspektiven ist also absolut zu erwarten. Die Frage ist nicht, ob es Perspektivenfärbungen und -verzerrungen gibt, sondern worin diese bestehen. Vernünftigerweise würde man erwarten, dass sich mit hoher Wahrscheinlichkeit die gesellschaftlichen Verhältnisse in Bezug auf Macht und Ähnliches – zum Beispiel einflussreiche Interessengruppen, dominante Ideologien, sowie allgemeinere Grundannahmen – in diesen Perspektivenfärbungen widerspiegeln.
Spannenderweise kann bereits der Versuch, den Kontrast zwischen «bei uns» und anderswo als nicht ganz so drastisch darzustellen, zu grossem Widerspruch und Verstörung bei «Westlern» führen. Die Überzeugung, dass im «freien und demokratischen Westen» Meinungsfreiheit und Pressefreiheit herrschen würden, hat sich bis jetzt wacker gehalten. Wie überzeugend ist es aber, zu glauben, dass tendenziöse Einfärbungen im öffentlichen Diskurs bei uns nur ein kleines Randphänomen sind, und keine systematischeren Verzerrungen zu finden sind? Wäre nicht erstaunlich, wenn es – gegeben die (geo-)politische Situation – keine wenn auch noch so klitzekleine Tendenz im Sinne einer unipolar-hegemonial-transatlantischen Weltsicht gäbe? Mir scheint wahrscheinlicher, dass eine der umfassendsten Geschichten – sogenannte Narrative – um uns herum in der unipolar-hegemonialen und liberal-imperialen Ideologie besteht, und dass diese von einem transatlantisch zentrierten Machtgebilde herrührt.
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Der Schweiz wie dem ganzen Westen steht eine Zeit des Wandels bevor. Und wie der Westen sollte sich auch die Schweiz auf eine post-unipolare, multipolare Welt vorbereiten. Mit unserem anti-imperial und anti-oligarchisch angelegten Staatswesen hätte die Schweiz das Potential, in einer neuen westlichen Renaissance eine Vorreiterrolle einzunehmen. Wir könnten proaktiv zu einem konfliktarmen Austritt aus dem unipolaren Moment beizutragen versuchen, und unsere imperialer geneigten westlichen Freunde davon überzeugen, von vollumfänglicher Vorherrschaft abzusehen.
Wäre es demnach nicht in Übereinstimmung sowohl mit den Interessen als auch mit den Werten der Schweiz, konstruktiv am Übergang zur sich aufdrängenden Multipolarität im Geiste echter Demokratie und wirklicher Souveränität gemäss der UNO-Charta teilzuhaben? Vielleicht würde die Schweiz auf diese Weise nicht nur sich selbst, sondern auch dem Westen und der Welt einen Gefallen tun.
Wenn im Fall einer solchen Positionierung die westlichen Freunde stärkeren Druck auf die Schweiz ausüben sollten, wäre dies nur Bestätigung einer Tendenz, dass sie mit den der Schweiz heiligen Grundprinzipien nicht völlig im Einklang stehen. In jedem Fall hat die Schweiz alles zu verlieren, wenn die Welt auf Konfrontationskurs weiterdreht. Im Szenario eines Konflikts der Zivilisationen und der darin drohenden Einbindung in einen offen autoritär zentralisierten und imperialen Westen wäre von dem, was die Schweiz ausmacht, nichts mehr übrig.
Die Schweiz entstammt dem Westen und gehört unweigerlich zu ihm. In jedem Fall darf oder soll den Schweizern ihre westliche Zugehörigkeit bewusst sein – oder überhaupt erst bewusst werden. Das Szenario einer Weltordnung, in welcher der Westen hegemonial-unipolare Nullsummenspiellogik durchsetzt und dabei multipolare Zusammenarbeit und allseitige Entwicklung verhindert, ist jedoch für die Schweiz keine nachhaltige Option.
Trotz ihrer zivilisatorischen Zugehörigkeit zum Westen bestünde in einem zunehmend hegemonial-imperialen Rahmen paradoxerweise wenig Raum für die Aufrechterhaltung der eigenen Besonderheiten und Identität. Die Schweiz würde in einem derartigen kollektiven Westen sang- und klanglos untergehen.
Die Schlüssel zur Vermeidung eines solchen Szenarios liegen im Westen. Für diesen lautet die Frage dazu: Wohin, post-unipolarer Westen? Für die Schweiz schliesslich steht an, die Zeichen der Zeit zu lesen, um der Verfassung gemäss weiterhin «Freiheit und Demokratie, Unabhängigkeit und Frieden in Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt» zu gewährleisten. Will die Schweiz weiterbestehen, hat sie – in ihrer Beziehung zum Westen, wie zur ganzen Welt – sich selber treu zu bleiben.
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