Newsletter Nr. 4

Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser

Ob man an die Initiative “Recht ohne Grenzen” denkt, an die kürzlich von der Erklärung von Bern lancierte Petition bezüglich der fragwürdigen Praktiken der Textilindustrie, oder an die zahlreichen und aufrüttelnden Skandale um den Finanzsektor: die Schweizer Aktualität scheint voll ethischer Probleme wenn es um die Grossunternehmen dieses Landes geht.

Pro Ethica konnte dabei nicht untätig bleiben. Heute nutzen wir dieses Schreiben zur Ankündigung der Lancierung von Ethometrics am 20. November 2012. Ethometrics ist eine online-Plattform, in Zusammenarbeit mit anderen Institutionen entwickelt, die frei zugänglich und kostenlos eine genaue und vollständige Erhebung der ethischen Vernachlässigungen und Vergehen von schweizerischen Grossunternehmen zur Verfügung stellt.

Gewiss existieren solche Werkzeuge schon. Was wir Ihnen vorstellen, stösst jedoch die Grenzen der Klassifizierung und Bewertung von verurteilungswürdigem Verhalten einen Schritt weiter zurück. Dank Ethometrics wird es möglich, das ethische Profil der Unternehmen nachzuzeichnen, deren ethische Vernachlässigungen und Vergehen sowohl den unmittelbaren Opfern als auch dem Ansehen der Schweiz schaden – im Ausland wie im Inland.

Mit der Veröffentlichung dieser Datenbank verfolgen wir weniger ein militantes als ein informatives Ziel, zuhanden der Bürger, Konsumenten und potentiellen Partner dieser Unternehmen. Die Schweiz verfügt über eine ausgezeichnete Fähigkeit zur Selbstkritik und ist ihren eigenen Problemen immer in konstruktivem Geist begegnet, im Erbe der Werte, die unsere Institutionen und unsere kulturelle Identität begründen.

Wir bauen in erster Linie auf diese Fähigkeit, dass jeder die richtigen Folgerungen zieht und diesem Geist entsprechend handelt. Letztlich genügen ja wiederholte und geteilte – wenn auch kleine – Bemühungen, um das moralische Gewebe der Gesellschaft zu verbessern.

Damit sich Ethometrics unter besten Bedingungen entfalten kann, brauchen wir auch Ihre Hilfe. Sie können nicht nur mitarbeiten oder uns finanziell unterstützen (die Rubrik “Spenden” auf unserer Webseite steht Ihnen offen), sondern auch bei der Kommunikation mithelfen: Falls Sie unser Projekt interessiert, dann sprechen Sie in Ihrem Umfeld davon, mit Angehörigen, Verwandten, Freunden und Kollegen, im persönlichen Gespräch wie über soziale Netzwerke!

Dafür brauchen Sie nichts weiter zu tun als den Link zu diesem Newsletter zu verschicken, womöglich mit der Mitteilung, doch bitte das Projekt zur Kenntnis zu nehmen. Sie benötigen dazu bloss einige Minuten, helfen uns und dem Projekt aber in grossem Masse.

Mit herzlichen Grüssen

Der Vorstand von Pro Ethica


Editorial

Das Ziel von Ethometrics ist eine umfassende Erhebung der ethischen Vernachlässigungen und Vergehen von schweizerischen Grossunternehmen. Dies setzt zwei Dinge voraus: dass die Unternehmen Akteure mit Verantwortung sind, analog zu jener von natürlichen Personen, und dass diese Verantwortung moralisch ist, das heisst, dass sie weiter reicht als der Rahmen der rechtlichen Verpflichtungen und der Interessen ihrer Aktionäre und Kunden. Da diese zwei Voraussetzungen seitens gewisser Philosophen und Unternehmen oft bestritten werden, wollen wir uns dazu erklären.

Das Argument gegen den Gedanken, wonach Unternehmen handelnde Akteure seien, stammt vom Gedanken her, dass man sich, um ein handelnder Akteur zu sein, als Ursprung der Handlung und der entsprechenden Absicht identifizieren können müsse. Ein Angestellter – so das Argument weiter – wisse aber, dass er eine Absicht umsetze, die nicht von ihm selber stamme; und das Mitglied der Unternehmensleitung wisse, wenn es eine Entscheidung fälle, dass es in den meisten Fällen nur die Absicht zu einer Handlung gegeben habe, die jemand anderer ausführen werde. Ein Unternehmen sei also nicht dazu in der Lage, sich selber als Ursprung seiner Handlungen und entsprechenden Absichten zu identifizieren.

Das Hauptproblem an diesem Argument besteht in der Annahme, dass die Delegierungsstruktur zwischen denjenigen, die entscheiden, und denjenigen, die handeln, es ihnen nicht erlaube, den Ursprung der Handlungen und der entsprechenden Absichten zu identifizieren. Diese Annahme ist aber natürlich falsch. Alle Teilnehmenden – ob sie delegieren oder ob sie ausführen – erfüllen eine Funktion, die ihnen entsprechend einer Prozedur, die sie selber anerkennen, zugewiesen worden ist. Daher sind alle Teilnehmenden dazu in der Lage, sich als Ursprung der Handlungen und der entsprechenden Absichten zu identifizieren, da ihre Handlungen die Funktion erfüllen, die ihnen zugewiesen ist. Wo also eine Handlung von jemandem erstens einer bestimmten Funktion entspricht, einer Funktion nämlich, die dieser Person zugewiesen ist, und zweitens mit einer Absicht einhergeht, und zwar mit einer Absicht, die von denjenigen gefasst worden ist, die diese Funktion innehaben, kann diese Handlung dem Unternehmen zugewiesen werden.

Der einzige Unterschied zu einer natürlichen handelnden Person, einem Individuum, besteht also darin, dass die Fähigkeit, sich als Ursprung von Handlungen und Absichten zu identifizieren, unter allen Angestellten und Mitgliedern der Geschäftsleitung verteilt ist.

Doch auch wenn Unternehmen handelnde Akteure sind, weshalb sollte man denken, dass Unternehmen moralische Verpflichtungen hätten, die mehr verlangen als bloss das Gesetz zu befolgen und die Pflichten gegenüber den Aktionären wahrzunehmen?

Ein sich wiederholendes Argument gegen diesen Gedanken ist das folgende: Wenn ausser den natürlichen Personen auch andere (kollektive) Akteure moralisch verantwortlich wären, wäre eine moralische Verurteilung eines Unternehmens für eine Handlung entweder gleichbedeutend mit einer Verurteilung von niemandem oder aber von allen Involvierten. Um diese Schlussfolgerung aufzustellen, baut das Argument auf dem vorhergehenden Gedankengang auf: Da ein Unternehmen aus Involvierten besteht, die sich gegenseitig ihre Funktionen – und damit alle (nicht-moralischen) an diese Funktionen geknüpften Pflichten und Befugnisse – anerkennen, sei für die Handlung jedes Angestellten jeder Involvierte verantwortlich, der diese Funktionen anerkenne, sofern diese Handlung mit der Funktion und der Absicht des Managements in Einklang stehe.

Folglich müsse die Verurteilung einer Handlung, welche an eine Funktion (und an die damit verbundenen nicht-moralischen Pflichten) geknüpft ist, sowie mit der durch die Geschäftsleitung gefassten Absicht in Einklang steht, auf alle Involvierten zurückfallen; und die Verurteilung aller anderen Handlungen – die also nicht an eine Funktion geknüpft sind und mit einer vom Management gefassten Absicht in Einklang stehen – müsse auf denjenigen Involvierten zurückfallen, der diese Handlung ausführt. Im ersten Fall würde dies beinhalten, dass auch diejenigen Involvierten ohne die Macht, die Handlung zu verhindern, nichtsdestotrotz moralisch zu verurteilen sind, was das Konzept der moralischen Verantwortung von Unternehmen absurd werden lässt, während sich dieses Konzept im zweiten Fall auf gar nichts anwenden liesse.

Das Hauptproblem an diesem Argument besteht darin, dass das Anerkennen einer bestimmten Funktion nicht gleichbedeutend ist mit dem Akzeptieren und dem Vermeidenkönnen aller möglichen Weisen, wie diese Funktion ausgeführt werden kann. Es sind also nicht alle Involvierten gleich vor Entscheidungen, die zu einer moralisch verurteilungswürdigen Handlung führen können, oder vor Handlungen, die ihren Ursprung in einem Machtmissbrauch haben. Demnach ist es falsch zu sagen, dass die Verurteilung einer im Namen eines Unternehmens und im Rahmen einer zugewiesenen Funktion begangenen Handlung auf alle Teilnehmenden zurückfallen müsse; sie muss nur auf diejenigen zurückfallen, die am Ursprung derjenigen Entscheidung stehen, die zu dieser Handlung geführt hat, sowie auf diejenigen, die hätten wissen können, dass sie zu einer verurteilungswürdigen Handlung führen würde und die aber nichts dagegen unternommen haben, die Macht dazu jedoch gehabt hätten.

Dies heisst aber nicht, dass es falsch sei zu sagen, das Unternehmen trage eine moralische Verantwortung; dies zu sagen heisst nur, dass, wenn gewisse durch Involvierte getätigte und dem Unternehmen zuweisbare Handlungen verurteilungswürdig sind, dann gewisse Involvierte dafür verantwortlich sind, entweder weil sie am Ursprung dieser Handlungen und der entsprechenden Absichten gestanden sind oder weil sie wussten, dass diese Absichten zu moralisch verurteilungswürdigen Handlungen führen würden, die Macht, sich dem entgegenzustellen, gehabt hätten und dies trotzdem nicht getan haben.

Unsere Antworten auf diese zwei Argumente erschöpfen die Debatte rund um die Frage des Status von Unternehmen und ihrer moralischen Verantwortung natürlich nicht. Insbesondere muss noch schlüssig aufgezeigt werden, inwiefern Unternehmen moralische Verpflichtungen habe und wie weit diese reichen. Für die Fortsetzung der Debatte laden wir Sie ab dem 20. November auf ethometrics.proethica.ch ein!

Nächster Newsletter: Februar 2013

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