Newsletter Nr. 5

Liebe Leserinnen, liebe Leser

Wir freuen uns sehr, Ihnen die offizielle Lancierung von Ethometrics – der von Pro Ethica entwickelten Online-Plattform zu ethischen Verstössen von schweizerischen Unternehmen – anzukündigen.

Wie Sie der Webseite oder dieser Broschüre entnehmen können, ist Ethometrics seit der Aufschaltung im November beträchtlich erweitert worden und erlaubt nun – unter anderem – das Feststellen von interessanten Tendenzen in der Entwicklung des ethischen Verhaltens der Firmen. Dazu ist die Datenbank unterdessen auch in zwei Sprachen verfügbar.

Wenn Sie sich allerdings fragen, ob ethische Fragen in der Aktualität der Firmen wirklich eine Rolle spielen, bieten wir Ihnen eine Antwort im untenstehenden Editorial. Sie werden anhand konkreter Beispiele sehen, dass diese in der Tat eine grundlegende Rolle in der Lösung verschiedener Affären gespielt hat. Den Beweis hierfür liefert die UBS und der Fall rund um die Manipulation des Libor, sowie der Fall Wegelin und die Beihilfe zu Steuerflucht in den USA.

Auch ausserhalb von Ethometrics wird das Jahr 2013 reich an Arbeit und Projekten:

  • Ein wichtiges Projekt in Umweltethik beispielsweise hat das Ziel, einen kleinen Ratgeber zur zeitgenössischen Ökologie herauszugeben. Indem er die verschiedenen möglichen Antworten auf grundlegende Fragen der normativen Theorien für die Umweltethik untersucht („Welches sind die Ursprünge für unsere moralische Verpflichtung gegenüber der Umwelt? Welches sind diese Verpflichtungen? Wie können diese Verpflichtungen in politisches Handeln übertragen werden?“), wird der Ratgeber einen Dialog mit den neuesten politischen Texten herstellen (z.B. den Empfehlungen der UNO, rechtlichen Analysen und internationalen Berichte etc.). Dies wird dem Leser erlauben, sich mit den Hypothesen und den Schlüsselbegriffen (z.B. der „nachhaltigen Entwicklung“) vertraut zu machen und damit jene Einflüsse zu verstehen, welche den Blick des Bürgers und des Staates auf die Umwelt beeinflussen.
  • In einem analogen – wenn auch etwas weniger ehrgeizigen – Format bereiten wir ein Dossier zu Immigration und Integration vor. Indem wir als Ausgangspunkt die moralischen Ansprüche (moral claims) von Immigranten an eine westliche Demokratie nehmen, werden wir einen Abriss der verschiedenen politischen Theorien zu diesen Fragen liefern. Eine Hauptfragestellung wird sein, ob die momentane Migrationspolitik der Schweiz mit den überzeugendsten Antworten dieser Theorien kompatibel ist. Es gilt dabei auch die geeignetsten Vorgehensweisen der Integrationspolitik zu identifizieren, das heisst die Art und Weise, den moralischen Ansprüchen von Immigranten gerecht zu werden.
  • Schliesslich arbeiten wir an einem Doktoranden-Blog, der es den Doktoranden der Schweizer Universitäten erlauben soll, ihre Arbeiten zu präsentieren und mit anderen Doktoranden zu diskutieren, sowie auf Fragen und Vorschläge der breiten Öffentlichkeit zu reagieren und Stellung zu beziehen.

Erlauben Sie uns den Hinweis, dass diese Projekte viel Zeit in Anspruch nehmen und auch von den Ressourcen abhängen, die uns zur Verfügung stehen. Wir sind Ihnen folglich sehr verbunden, wenn Sie uns durch eine Spende oder indem Sie Mitglied von Pro Ethica werden unterstützen.

Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Frühling.

Der Vorstand von Pro Ethica


Editorial

Die Welschschweizer Tageszeitung Le Temps publizierte am 13. Februar 2013 einen langen Artikel zum Thema der Steuerbarkeit multinationaler Unternehmen. Die OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) will die steuerlichen Normen für diese Unternehmen dahingehend verändern, dass die « aggressive Steuerplanung » verunmöglicht wird. Mit aggressiver Steuerplanung ist die (legale) Praxis gemeint, steuerbares Einkommen in ein steuerlich interessanteres Land als das Produktionsland zu überweisen. Ein Beispiel ist das Unternehmen Google, welches dank komplexer Steueroptimierungsmethoden seinen Gewinn – nach einem Umweg über Irland und die Niederlande – auf die Bermudas überwiesen hat und so schlussendlich praktisch nichts an amerikanischen Steuern bezahlen musste. Ein weiteres Beispiel ist Starbucks: Das Unternehmen hat in England Proteste ausgelöst, da seit 1998 Steuerzahlungen in Grossbritannien umgangen wurden, indem die Gewinne nach Irland überwiesen wurden.

Im Editorial von Le Temps behauptet Alexis Favre, dass es nicht um Moral oder Ethik gehe, wenn entschieden wird, ob die Schweiz beim Verfassen dieser neuen Normen teilnehmen soll. Ihm gemäss ist die Frage rein politischer Natur. Will die Schweiz ihre ökonomischen Interessen verteidigen, soll sie an der Debatte teilnehmen und sich nicht ihre eigene Steuerregelungen diktieren lassen. Dies gelte besonders – so Favre weiter – da die Schweiz die Multinationalen gezielt bevorzuge und durch ihre Gegenwart auf schweizerischem Gebiet Vorteil ziehe. Angesichts dieser wirtschaftlichen Gründe würden also die “abgenutzten” ethischen Fragen keinerlei Rolle in der Entscheidung spielen, welche die Eidgenossenschaft zu treffen hat.

Allerdings werfen die Handlungen von multinationalen Unternehmen sehr wohl regelmässig ethische Fragen auf, die aufgrund ihres Einflusses auf die Politik und auf strategische Unternehmensentscheidungen der Überlegung bedürfen. Gewiss könnte die Schweiz, was die Steuerbarkeit der Multinationalen angeht, ihre Interessen ohne Berücksichtigung der grundlegenden ethischen Fragen verteidigen, wie Alexis Favre das vorschlägt. Sie kann aber ebenso, umgekehrt, das Problem von der Seite der ethischen Folgen angehen und ihre politischen Entscheidungen dementsprechend orientieren. Die Wahl eines Gleichgewichts zwischen ethischen Werten und ökonomischer Interessen stellt demnach keine “abgenutzte” Frage dar, welcher man sich entledigen kann, sondern zeigt im Gegenteil die grundlegende Frage überhaupt auf, welche es zu beantworten gilt, bevor man eine spezifische Position verteidigen kann.

Zugegebenermassen ist die Aufgabe nicht immer einfach. Tatsächlich werden in manchen Fällen Verstösse gegen eine ethische Norm durch ein Gesetz – eine legale Norm – geahndet, in anderen Fällen aber sind solche Verstösse nicht illegal und also auch nicht strafbar. Als zum Beispiel Transocean in den Vereinigten Staaten nach einem Ölunfall mit 1.4 Milliarden USD gebüsst wurde, bestraften die Behörden das Unternehmen für Schäden an der Umwelt, welche unter dem Schutz des Clean Water Act steht. Kein Gesetz bestraft jedoch “aggressive Steuerplanung”. Und obwohl Glencores Überweisungen seiner im Kongo erwirtschafteten Gewinne legal sind, täuscht diese Legalität nicht über die Missachtung von diversen Normen der steuerlichen und sozialen Verantwortung hinweg (sowie der Tatsache der extremen Armut des kongolesischen Volkes).

Ebenso trifft es zu, dass ethische Fragestellungen heute in gewissen Bereichen klarer hervortreten als in anderen. Die Verstösse gegen Menschenrechte und die Zerstörung der Umwelt laden ziemlich direkt dazu ein, die ethischen Praktiken der Unternehmen zu hinterfragen. Angesichts derartiger Verstösse erscheint die wirtschaftliche Freiheit von Unternehmen – meist von der individuellen Freiheit ausgehend gerechtfertigt, welche sich ihrerseits an die Privatsphäre knüpft – zweitrangig. Das Problem besteht darin, dass das Erkennen von ethischen Verstössen im Finanzsektor beispielsweise, oft deutlich schwieriger ist. Die diesen Verstössen zugrundeliegenden Werte nehmen keinen zentralen Platz in der Entscheidungsfindung der Unternehmen oder der Behörden ein. Wenn wir aber die letzten gerichtlichen Schwierigkeiten untersuchen, welchen sich die helvetischen Banken ausgesetzt sahen, bemerken wir rasch die beträchtliche Rolle, welche die Ethik hier gespielt hat. Tatsächlich wurde das Gesetz dahingehend interpretiert, dass es ethische Werte zum Gegenstand hat, welche durch die fraglichen Handlungen nicht respektiert worden waren (nämlich die Steuergerechtigkeit und die Förderung der langfristigen gemeinschaftlichen Interessen). Diese Beispiele zeigen ausserdem eine weitere Schwierigkeit, wenn es um die ethische Dimension des Gesetzes geht : Die Feststellung eines ethischen Verstosses reicht nicht aus, um eine Verurteilung zu erreichen. In der Tat muss zuerst noch festgestellt werden, ob es sich um eine individuelle oder eine kollektive Verantwortung handelt, bevor ein Unternehmen als Institution angeklagt werden kann.

Das Beispiel der Steuerfluchtaffären der letzten Zeit vermag den Stellenwert der Ethik in der Auslegung von Gesetzen zu illustrieren: Wie rechtfertigt sich die Anklage der Bank Wegelin durch die amerikanischen Behörden, angesichts der Tatsache, dass die Bank keine einzige Filiale in den Vereinigten Staaten betrieb und stets konform mit dem Schweizer Recht – welches die Steuerflucht nicht strafrechtlich ahndet – agiert hat ?

Muss sich eine Firma nicht lediglich an die Gesetzgebung in jenem Land halten, in welchem sie ihren Hauptsitz hat? Die juristischen Interpretationen gehen hier weit auseinander. Einigen Analysten gemäss 1 habe die amerikanische Justiz die Grenzen ihres Einflusses überschritten, während andere der Ansicht sind, die Anklage falle direkt in die Zuständigkeit des amerikanischen Gesetzes. Wie dem auch sei, wenn man die ethischen Werte, welche das amerikanische Gesetz schützen will, ins Auge fasst – namentlich jenen der steuerlichen und sozialen Gerechtigkeit – dann stellt sich die Frage nach der Legitimität der den Banken auferlegten Strafe nicht mehr. Tatsächlich zog das Verhalten der Bank Wegelin einen Verstoss dieser Normen nach sich, unabhängig von der Frage nach der territorialen Anwendbarkeit des Gesetzes. Von diesem Gesichtspunkt aus, stellt niemand die richterliche Entscheidung in Frage. Wegelin selbst gibt zu, dass ihr Verhalten nicht richtig war und dass sie sich dessen vollkommen bewusst war. Sie wusste also, dass sie den Geist des amerikanischen Gesetzes – und damit die zugrundeliegenden ethischen Normen – verletzte, dachte aber, dass sie der amerikanischen Justiz dank der geographischen Immunität entkommen könne – was ihr Verhalten noch verschlimmert. Es ist also möglich, die ethische Interpretation eines Gesetzes einer strikt juristischen Interpretation vorzuziehen. Genau dies fordert übrigens der britische Premierminister David Cameron, wenn er ein Justizsystem vorschlägt, das es erlaubt, Verstösse gegen den “Geist des Gesetzes” auch dann zu ahnden, wenn das Gesetz als solches respektiert worden ist.

Die Affäre um die Manipulationen des Bankenzinses Libor bildet hier eine interessante Illustration des zweiten Problems der Unternehmensverantwortung angesichts von Verstössen gegen ethische Normen. In der Tat können wir uns hier Folgendes fragen : Wie konnten Banken als Institutionen – man denke an UBS – für individuelle Handlungen von ihren Mitarbeitern bestraft werden ? Laut den schweizerischen, amerikanischen und britischen Aufsichtsbehörden ist die Bank als juristische Person für das Verhalten seiner Mitarbeiter verantwortlich. Die Schlussfolgerung der Eidgenössischen Finanzaufsicht (FINMA) bestätigt dies ohne jede Zweideutigkeit :

In summary the conduct of UBS’s employees was inappropriate. Such conduct is attributed to the bank. FINMA therefore concludes that UBS as an institution severely violated the organizational and the proper business conduct requirements.

Die Behörden werfen der UBS zwei Umstände vor, welche die illegalen Handlungen seiner Mitarbeiter möglich gemacht hätten : (1) die ungenügende Kontrolle der Handlungen Einzelner hätten Delikte über Jahre hinweg ungeahndet zugelassen, ungeachtet der Tatsache, dass die Selbstkontrolle zentral für die Gesetzgebung rund um die Finanzmärkte sei. Ein weiterer Vorwurf schliesst sich diesem an, welcher klar zeigt, dass ethische Überlegungen in der Auslegung des Gesetzes eine Rolle spielten. Tatsächlich wurde die UBS beschuldigt, (2) eine Umgebung geschaffen zu haben, welche individuelles Streben (definiert als Maximierung der direkt verfügbaren persönlichen Gewinne) zuungunsten der längerfristigen Interessen des Unternehmens sowie der Märkte begünstigt habe. Den Behörden gemäss ist also die Unternehmenskultur für die individuell begangenen Verstösse zu belangen. Dies zeigt, dass durch diese Verurteilung ein Wertesystem in Frage gestellt wird. Die Behörden verlangen nun von der UBS die Entwicklung einer neuen Unternehmenskultur, welche sich massgeblich von jener der letzten zehn Jahre unterscheidet. Das genannte Streben muss demnach hinter andere Werte – wie beispielsweise Nachhaltigkeit oder Stabilität der Wirtschaft – zurücktreten. Denn nur eine Neudefinierung der Wertehierarchie wird es erlauben, ähnliche Skandale in der Zukunft zu vermeiden. Dieses Beispiel zeigt ausserdem, dass die Unternehmen in den Augen der Justiz eine Verantwortung im kollektiven Sinne haben. Die oben erwähnte Wertehierarchie muss sich auf die Gesellschaft als solches beziehen und nicht auf eine Person oder eine spezifische Behörde im Innern einer Entität.

Diese beiden Beispiele zeigen den Einfluss, welchen ethische Fragen in juristischen Entscheidungen und a fortiori in der Politik haben, die ja für die Schaffung des gesetzlichen Rahmens verantwortlich ist. Die Schweiz sollte sich also mit diesen Fragen auseinandersetzen, wenn es um die Bestimmung ihrer Innenpolitik gegenüber den Schweizer Unternehmen geht. Noch bewusster sollte sie sich dieser Fragen in ihrer Aussenpolitik sein, geht es doch um die Schaffung eines neuen normativen Rahmens für jene Länder, mit welchen sie direkte wirtschaftliche Beziehungen unterhält. Statt dem Rat von Alexis Favre zu folgen und die Ethik zu ignorieren sollte sich die Schweiz vielmehr über die Möglichkeit freuen, an einem normativen Rahmen mitzuarbeiten, welcher für ethische Anliegen offen ist und von wichtigen Partnern mitgetragen wird.

Nächster Newsletter: Juni 2013

Notes:

  1. Ein Artikel von Adrien de Riedmatten auf LesObservateurs.ch zeigt sich besonders bissig gegenüber der amerikanischen Justiz, welche sich in der jüngeren Geschichte des Landes mehrfach erlaubt hat, seine Gesetze anderen souveränen Staaten aufzuoktroyieren. Quelle : Wegelin : Les irréductibles banquiers, le 25.05.2012. URL : http://www.lesobservateurs.ch/2012/05/25/wegelin-les-irreductibles-banquiers/

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