Newsletter n°7

Pro Ethica – Newsletter 7

Liebe Leserinnen, lieber Leser

In unserem Newsletter zum Jahresende unterbreiten wir Ihnen ein Editorial zum Thema Extremismus und Gruppenverantwortung. Der Autor vertritt die Meinung, dass “Selbstverantwortlichmachung” innerhalb einer Gruppe (auto-responsabilisation) das beste Mittel sei, die verschiedenen Arten von Extremismus zu neutralisieren. Lesen Sie mehr in unserem Editorial.

Vortragsreihe
Unsere Vortragsreihe zum Thema Wirtschaftsethik startet an diesem Freitag, den 6. Dezember 2013, in Genf (18h15 – 19h30, Uni-Mail, Raum S050, Boulevard du Pont d’Arve 40). Für den ersten Vortrag freuen wir uns auf Catherine Ferrier (Universität Genf, Koordinatorin des Weiterbildungsprogramms zur sozialen Verantwortung der Unternehmen). Sie spricht zum Thema “Gesellschaftliche Verantwortung der Unternehmen – wozu?”

In der Folge werden monatlich Vorträge stattfinden. Hier schon einmal die Daten und Themen der nächsten zwei Vorträge:

– 17. Januar 2014: “Tugenden oder Verpflichtungen? Ethische Aspekte des Konzepts der gesellschaftlichen Verantwortung der Unternehmen” – 14. Februar 2014: “Der internationale wirtschaftliche Hintergrund: Geschichte und Kultur des Global Compacts”

Die Vorträge richten sich an ein breites Publikum. Eine vollständige Agenda finden Sie demnächst auf unserer Webseite www.proethica.ch. Hier der Link zum Veranstaltungsplakat.

Ethometrics – Rekrutierung von Mitarbeitern
Die vor einem Jahr gegründete Datenbank Ethometrics hat zum Ziel, ein ethisches Porträt der schweizerischen Firmen zu zeichnen. Das Projekt wird immer umfangreicher, aber es bleibt noch viel Arbeit bis zur Vollständigkeit. Daher sind wir auf freiwillige Mitarbeiter angewiesen, die uns helfen die nötigen Informationen zusammenzutragen, damit so viele Missbrauchs- und Unterlassungsfälle wie möglich erfasst werden können. Wenn Sie diese faszinierende (und nicht allzu komplizierte!) Arbeit interessiert, laden wir Sie ein uns zu kontaktieren, um unserem Forschungsteam beizutreten (Koordination: Judith Würgler – judith.wuergler@proethica.ch).

Humaniora – Projekt zur stoischen Ethik
Zwei unserer Mitglieder und Mitarbeiter werden bald ein Themendossier zur stoischen Ethik beenden. Das Programm ist vielversprechend: In verschiedenen Formaten und Artikeln werden uns die Autoren Antworten auf die Fragen liefern, worin der Stoizismus genau besteht, inwiefern dieser als eine Tugendethik gelten kann und was dies bedeutet, sowie inwieweit das stoische Gedankengut heute relevant sein kann.

Neu auf unserer Webseite: Ethik in der Schweiz
Ab sofort können Sie (vorerst auf Französisch, die deutsche Übersetzung folgt bald) auf unserer Webseite eine Liste mit den relevanten Akteuren der Ethik in der Schweiz aufsuchen: https://www.proethica.ch/de/lethique-en-suisse

Wir wünschen Ihnen eine gute Lektüre, und schon jetzt ein angenehmes Jahresende.

Der Vorstand von Pro Ethica


Extremismus und Gruppenverantwortung

Der Begriff Extremismus ist problematisch: Er hängt von politischen Kriterien und ethischen Variablen ab, die sich von einer Gesellschaft zur anderen unterscheiden, und die Skala der Nuancen, die von einer nichtextremistischen Idee oder Handlung zu einer extremistischen Idee oder Handlung führt, ist lang. Es gibt jedoch drei Eigenschaften, die zahlreiche Extremisten gemeinsam haben: (i) der Extremist ist rational im dem Sinne, dass er aufgrund von Motivationen handelt, die er für Rechtfertigungen hält; (ii) der Extremist hängt von einer Gruppe ab in dem Sinne, dass er seine Motivationen aus den zentralen Werten jener Gruppe zieht, mit der er sich am stärksten identifiziert; (iii) der Extremist sieht sich als “Retter-Opferer” in dem Sinne, dass er die moralisch relevanten Interessen von anderen, insbesondere die der Nicht-Extremisten seiner Gruppe und die von Mitgliedern anderer Gruppen, als opferbar ansieht, wenn deren Opfer die zentralen Werten rettet (d.h. diesen dient) und auch in dem Sinne, dass er es als seine Verpflichtung ansieht sie zu opfern.

Diese Charakterisierung des Extremismus kann zweifellos noch präzisiert und nuanciert werden. Sie reicht jedoch aus, um uns zu ermöglichen sie vom Rest der Gruppe, mit der sie sich am stärksten identifizieren, zu unterscheiden:

  1. die salafistischen Jihadisten, welche bereit sind in ein kenyanisches Einkaufszentrum einzubrechen und auf Frauen und Kinder zu schiessen, oder Raketen in die von israelischen Pendlerarbeitern bewohnten Vororte zu schleudern (man kann sie von gemässigten Muslimen unterscheiden);
  2. die fanatischen Zionisten, welche bereit sind mit Bulldozern über Dörfer im Westjordanland zu fahren, oder sie mit Stacheldraht zu umzingeln, um „Gross-Israel zu seiner Grösse zu verhelfen.“ (man kann sie von denjenigen Israeli und ihren Sympathisanten unterscheiden, welche die Legitimität des internationalen Rechts und der Ethik anerkennen);
  3. diejenigen unter den konservativen US-Amerikanern, die bereit sind dafür zu kämpfen, dass Schüler auf dem Schulareal Feuerwaffen auf sich tragen zu dürfen, zu behaupten, dass die die Erde in sieben Tagen geschaffen wurde, die staatliche Verwaltung zu blockieren in der Verfolgung eines ideologischen Ziels, im Wissen um die Schäden, die dadurch entstehen (man kann sie von den redlichen Republikanern unterscheiden, die sich respektvoll gegenüber den demokratischen Institutionen und den Interessen, für die sie stehen repräsentieren, verhalten.)1

Welches ist – mit Ausnahme von Teeren und Federn – die beste Lösung für diese Formen von Extremismus? Eigenverantwortung und Selbstregulierung. Lassen sie mich erklären.

Jede Gruppe hat ein Zentrum und eine Peripherie. Nehmen wir an, dass sich im Zentrum die Individuen befinden, die den zentralen Werten der Gruppe treu sind, die aber dennoch gemässigt und vernünftig sind, in dem Sinne dass sie das folgende Prinzip der Unvoreingenommenheit anerkennen: Die Interessen der Mitglieder sind a priori nicht von grösserer Wichtigkeit als diejenigen von Nicht-Mitgliedern, und kein Interesse kann geopfert werden ohne eine Form von kollektivem Einverständnis (zum Beispiel durch das Ausüben eines politischen Rechtes, oder durch eine darauf basierende Vertretung). Nehmen wir des weiteren an, dass sich an der Peripherie die Extremisten befinden, welche ursprünglich im Zentrum waren, aber durch eine Serie von unglücklichen Schritten das Prinzip dieses Prinzip vergessen haben.

Da sich der Extremist als ein Retter-Opferer der zentralen Werte der Gruppe, der er sich angehörig fühlt, sieht und er sie als Rechtfertigung nimmt (These (iii) und (ii)), sieht er seine Stellung in der Gruppe als zentral an, genauso wie er die Stellung seiner Gruppe im Verhältnis zu anderen Gruppen sieht. Es gibt also ein Verhältnis von systematischer Verkehrung zwischen der tatsächlichen Stellung eines Extremisten innerhalb der Gruppe und der von ihm selbst wahrgenommenen Stellung.

Diese systematische Verkehrung spornt den Extremisten – ganz wie nach dem Quiproquo in der Tragödie – dazu an, sich immer weiter vom Zentrum der Gruppe, mit der er sich identifiziert, zu entfernen. Je mehr er die Geduld verliert, dass nicht mehr getan worden ist, was zur Förderung der zentralen Werte der Gruppe hätte getan werden können, aufgrund des Prinzips, dass keine Gruppe mehr Legitimität als eine andere geniesst, desto mehr entfernt er sich vom Zentrum.

Glücklicherweise ist der Extremist rational. Er ist also empfänglich für die Werte, auf die sich seine Handlungen richten (These (i)). Um den Extremismus zu neutralisieren, reicht es demnach aus ihm zu zeigen:

  1. dass die Werte, nach denen er zu handeln gedenkt, keine zentralen Werte der Gruppe sind;
  2. dass, auch wenn diese Werte die Gruppe zusammenhalten, seine Handlungen nicht mit ihnen übereinstimmen und demnach nicht geeignet sind, diese Werte zu realisieren;
  3. dass diese Werte, ob sie den zentralen Werten der Gruppe entsprechen oder nicht, keinen Grund darstellen die Interessen von Nicht-Extremisten oder Mitgliedern anderer Gruppen zu opfern, aufgrund des Unvoreingenommenheitsprinzips.

Welche Personen sind in der besten Position, diese verschiedenen Aspekte anzugehen? Natürlich die gemässigten Mitglieder der Gruppe. Diese kennen die zentralen Werte der Gruppe, kennen die besten Mittel, sie zu realisieren, und sie wissen, wenn sie keine Extremisten sind, dass die Interessen anderer, unabhängig davon ob sie Mitglieder der Gruppe sind, nicht geopfert werden können (sie folgen dem Prinzip der Unvoreingenommenheit). Ferner kennen sie die Extremisten besser als jegliche Person ausserhalb der Gruppe, oder sie kennen Personen, welche ihrerseits die Extremisten kennen.

Lässt sich daraus schliessen, dass alle Mitglieder der Gruppe die moralische Verpflichtung haben “ihre” Extremisten umzustimmen, indem sie die Punkte (1-3) anwenden, wenn sie die Gelegenheit haben? Ja, aber nur wenn die nicht-extremistischen Mitglieder der Gruppe die Punkte (1-3) mit guten Aussichten auf Erfolg anwenden können, und wenn im Falle, dass sie nicht handeln, die relevanten moralischen Interessen der Nicht-Extremisten der Gruppe, oder der Mitglieder anderer Gruppen, geopfert würden.2

Es bleibt die folgende Frage, um den Extremismus auszulöschen: Unter welchen Umständen kann man wissen, dass man mit guten Erfolgsaussichten, mithilfe der Punkte (1-3), gegen den Extremismus kämpfen kann, und wieso sollte man motiviert sein es zu versuchen, wenn man sich im Klaren ist, dass andere Mitglieder der Gruppe es auch wissen und es weniger kostspielig ist nichts zu tun, mit der Erwartung, dass andere dieser Verpflichtung, die wir mit ihnen teilen, nachkommen?

Ich will hier nicht auf die Betrachtungen zum Egoismus, zum Dogmatismus und zur Ignoranz eingehen, welche die Menschen (be)hindert dieser moralischen Verpflichtung Folge zu leisten. Es sei hier aber vermerkt, dass diese Hindernisse einfacher zu korrigieren wären, wenn die Gruppen Eigenverantwortung trügen – also intern die Anerkennung der vorher genannten Verpflichtung aller Gruppenmitglieder fördern würden – und wenn sie sich selbst regulieren würden, sprich dass sie sich organisieren bei den anderen Gruppen einsetzen, um auf diese Verpflichtung mit dem gleichen Eifer aufmerksam zu machen wie auf die Verpflichtungen, die auf den zentralen Werten der Gruppe basieren.

Man könnte hier einwenden, dass diese Lösung voraussetzt, dass alle Gruppen, die Extremisten beherbergen, eine stark institutionalisierte Struktur haben, zumindest die einer staatlichen Institution mit gewaltengetrennten Organen, die sich in einem gesellschaftlichen Gefüge, das demokratische Werte einbindet, befinden. Dies würde dazu führen, dass die obengenannte Lösung nicht auf die Gruppen angewendet werden können, welche sich nicht gänzlich einer Demokratie verschrieben haben, oder in verschieden Demokratien oder Staaten gleichermassen beheimatet sind.

Doch dieser Einwand verfehlt sein Ziel. Das Argument setzt nur voraus, dass jede Gruppe eine Autorität besitzt, welche die Mitglieder auf diese Verpflichtung sensibilisiert und ihnen zu verstehen gibt, dass sie genauso wichtig ist wie die anderen Verpflichtungen der Gruppe, welche ihre Quelle in den zentralen Werten der Gruppe haben. Demzufolge ist die Achtung dieser Verpflichtung natürlicherweise mit der Achtung der anderen Verpflichtung verknüpft. Somit genügt es, wenn jedes Mitglied die Vermittlung übernimmt und die anderen Gruppenmitglieder sensibilisiert, sobald dies nützlich erscheint.

Wenn so gehandelt wird, hat jede Gruppe die Mittel, ihre eigenen Extremisten zu bekämpfen, was jede andere Gruppe für sich entdecken und für den Kampf gegen ihre Extremisten verwenden kann. Nach und nach wird keine Art von Extremist mehr ausgespart.

Dies ist also eine mögliche Lösung für diejenigen, die des sehr politisch korrekten Begriffs des „intergemeinschaftlichen Dialoges“ überdrüssig sind. Wenn der Dialog ohne ein gewisses Minimum an Koordination kaum zu greifbaren Fortschritten führen kann, könnte vielleicht ein solches Prinzip, das zugleich allgemeiner als die Menschenrechte und weniger in eine Institution mit anfechtbarer Legitimität (die Vereinten Nationen) eingebettet ist, diese Koordination lenken und unterstützen.


Notes

  1. Erlauben diese Kriterien – insbesondere (iii) – die Aufnahme derjenigen Extremisten unter den Liberalen der demokratischen Gesellschaften, angesichts der Tatsache, dass diese bereit sind, Dilemmas zu erfinden, welche die Wähler zwingen zwischen der Wirtschaft oder der individuellen Freiheit zu entscheiden (oder alles auf einen Wert zurückzuführen, der entweder von der Wirtschaft oder der individuellen Freiheit gehalten wird), im Wissen darum, das diese Dilemmas trügerisch sind und dass die Priorisierung dieser Werte in Bezug auf alle anderen Werte Ungerechtigkeiten und Leiden hervorrufen Ich habe keine entschiedene Antwort bereit und überlasse es der Leserschaft, diese Frage zu beantworten.
  2. Diese Verpflichtung der Gruppe findet auch dann Anwendung, wenn die Extremisten nicht alle zentralen Werte der Gruppe, zu der sie gehören, teilen, wie auch wenn sie Mitglieder anderer Gruppen sind, mit denen einige der zentralen Werte geteilt werden. Damit eine Gruppe diese Plicht hat, reicht es, dass die Extremisten Mitglieder im Sinne von (ii) und (iii) sind – ob dies nun eine Adhäsion an diese Werte impliziert oder nicht – und dass die Erfolgschancen einer Intervention bei dem Extremisten gut sind.